ILO warnt vor Sozialabbau
3. Juni 2014Job verloren, krank geworden oder einfach zu alt für den Arbeitsmarkt: Es gibt viele Gründe, warum jemand Sozialleistungen in Anspruch nehmen muss. Allerdings bekommen nicht alle Menschen solche staatlichen Hilfen - obwohl sie Anspruch darauf hätten. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) hat in einem neuen Bericht untersucht, wie es um die Umsetzung des sogenannten UN-Sozialpaktes bestellt ist, der jedem Einzelnen ein Recht auf soziale Sicherheit garantiert. Das Ergebnis: Nur 27 Prozent der Weltbevölkerung sind über ihr gesamtes Leben hinweg ausreichend sozial abgesichert.
Sozialleistungen fördern Wirtschaft
Dabei lohnt sich eine Absicherung für den Staat. Wie gut oder schlecht die soziale Absicherung ist, hänge vor allem von der allgemeinen Wirtschaftsentwicklung eines Landes ab, so ein Ergebnis der Studie. Doch ebenso hänge die Wirtschaftsentwicklung eines Landes von den Sozialsystemen ab. "In vielen Entwicklungs- und Schwellenländern, die in soziale Absicherungen investiert haben, sehen wir sehr positive Erfolge", sagt Christina Behrendt, eine der Autorinnen der Studie, im DW-Interview. "Da sehen wir, dass solche Investitionen einen sehr, sehr positiven Effekt auf die wirtschaftliche Entwicklung haben."
China hat demnach mittlerweile eine fast flächendeckende Altersversorgung aufgebaut. In Brasilien wird das Sozialsystem seit Jahren kontinuierlich ausgebaut, um auch arme Familien zu unterstützen, und in Indien hat zum Beispiel mit dem "Mahatma Gandhi National Employment Guarantee Scheme" Millionen von Menschen in ländlichen Gebieten eine 100-Tage-Beschäftigung gesichert, so der Bericht. Das alles stärke auch den Binnenmarkt und damit die heimische Wirtschaft. Von daher "muss man die Frage eher auf den Kopf stellen und fragen, können es sich arme Länder leisten, nicht in soziale Sicherung zu investieren?", sagt Behrendt.
Besorgniserregender Abbau in Europa
In Europa dagegen werden Sozialleistungen nach Angaben der ILO wegen staatlicher Sparmaßnahmen massiv abgebaut. "Vor allem in Südeuropa sehen wir jetzt schon einen Anstieg der Kinder, die von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen sind", stellt Christina Behrendt fest.
Auch die internationale Hilfsorganisation Oxfam warnt vor den Folgen der europäischen Sparpolitik, die mit der hohen Arbeitslosigkeit in Ländern wie Spanien und Griechenland die Sozialsysteme aushöhlten. "Besonders alarmierend finde ich Nachrichten wie die aus Griechenland, dass dort die Kindersterblichkeit extrem angestiegen ist, weil bestimmte Gesundheitsdienstleistungen nicht mehr in Anspruch genommen werden können", sagt Tobias Hauschild, Referent für Entwicklungsfinanzierung bei Oxfam Deutschland. "Das ist eine Rückkehr zu rudimentären sozialen Sicherungssystemen und rudimentären Gesundheits- und Bildungssystemen, wo auch die soziale Ungleichheit gestärkt wird".
Soziale Schere geht auseinander
Oxfam hat vor einiger Zeit eine Analyse der Sozialsysteme in den G20-Staaten - den 20 wichtigsten Industrie- und Schwellenländern - gemacht. Auch in diesem Bericht wurde festgestellt, dass die Schere zwischen Arm und Reich in den meisten Ländern immer weiter auseinandergeht. "Das ist ein weltweiter Trend, der eigentlich in allen Ländern zu beobachten ist", so Hauschild. Zwar gebe es Ausnahmen auch bei den G20-Ländern. So schließe sich eher die soziale Schere in Ländern wie Südkorea und einigen lateinamerikanischen Ländern. Allerdings, gibt Hauschild zu bedenken, sei die Ungleichheit in Ländern wie Brasilien, Argentinien oder Mexiko von vornherein sehr hoch. "Insofern ist dort die soziale Ungleichheit immer noch an der Tagesordnung".
Zeitnahe Analyse
Hausschild fordert, sowohl die G20 als auch die G7 müssten sich mit dem Thema Sozialsysteme bald befassen und vor allem mit der Frage des sozialen Friedens. Auch die ILO warnt im neuen Bericht vor den Folgen für die globale politische und wirtschaftliche Stabilität, wenn nicht gehandelt werde.
Hauschild verweist auf den UN-Gipfel im September 2015, auf dem die zukünftigen Entwicklungsziele der Weltgemeinschaft festgelegt werden sollen. "Jetzt beginnt sozusagen die heiße Phase, in der man sich auf neue Ziele einigen muss. Da kommt der Bericht zur richtigen Zeit."