Der Isenheimer Altar im neuen Glanz
2. Juli 2022Alte Übermalungen wurden entfernt, ursprüngliche Farben freigelegt, Verschmutzungen beseitigt und das alles unter den Augen staunender Museumsbesucher. Vor der Restaurierung im elsässischen Musée Unterlinden wurden die Bilder geröntgt und mit 3D-Mikroskopen untersucht. Auch Pigmentproben entnahmen die Restauratoren während der vierjährigen Arbeiten, die sich die Société Schongauer als Museumsträgerin und das französische Kulturministerium rund 1,4 Millionen Euro kosten ließ. Über das Ergebnis ist Direktorin Pantxika De Paepe mehr als glücklich: "Der Altar hat seine alte Schönheit wieder - mit neuer Helligkeit, mehr Licht und frischeren Farben."
Übergroß wirkt das Holzkreuz, an dem der gemarterte Jesus Christus hängt. Sein Körper, übersät von Wundmalen, wiegt so schwer, dass sich das Querholz nach unten biegt und die überstreckten Arme aus den Schultergelenken gerissen werden. Im Schmerz verkrampft spreizen sich die festgenagelten Hände des Toten gen Himmel - ein einziger Aufschrei. Am Fuße des Kreuzes: Johannes der Täufer und die leidversunkene Mutter Maria. Drastischer hätte Matthias Grünewald (um 1480 bis 1530) die Kreuzigung Christi kaum malen können.
Auftragswerk für ein Antoniterkloster
Der Wandelaltar entstand zwischen 1512 und 1516 als Auftragswerk für das Antoniterkloster im elsässischen Isenheim, gelegen an der alten Römerstraße von Mainz nach Basel. Pilger auf der Wallfahrt nach Rom machten hier Station. Der Antoniter-Orden betrieb hier, unweit von Colmar, ein Spital, in dem viele Menschen behandelt wurden, die an Mutterkornbrand litten. Der im Mittelalter verbreitete Krankheit löste stark brennende Schmerzen aus, die man deshalb "Heiliges Feuer" oder "Antoniusfeuer" nannte. Dagegen gab es kaum ein Heilmittel. Grünewalds Altar war für die Klosterkirche bestimmt: Beim Betrachten seiner Tafelbilder sollten Kranke Trost finden.
Im Colmarer Museum Unterlinden, einem ehemaligen Dominikanerinnenkloster, ist Grünewalds Hauptwerk heute ausgestellt: Die Gemälde finden sich auf zwei feststehenden und vier drehbaren Altar-Flügeln. Die Skulpturen im Hauptschrein stammen wohl von dem um 1490 in Straßburg tätigen Bildschnitzer Niklaus von Hagenau. Auch sie wurden aufwendig restauriert. "Unser Altar hat sich verändert", sagt Museumschefin de Paepe, "Tafelbilder und Skulpturen bilden wieder eine sichtbare Einheit."
Die von Firnis befreiten Bildwelten Grünewalds, der auferstandene Christus, die mild lächelnde Gottesmutter - sie alle erstrahlen in neuer, ungewohnter Brillanz und Farbigkeit. Auch die bemalten Holzskulpturen des Nikolaus von Hagenau haben an Wirkung gewonnen. Ein wichtiges Ergebnis der Analysen und Restaurierungen, fasst Chefrestaurator Antony Pontabry zusammen: "Wir haben gelernt", sagte er der DW, "dass Grünewalds Altar von Anfang an als gemeinsame Komposition aller beteiligten Handwerker und Künstler gedacht war. Gemälde, Skulpturen und Rahmen entstanden Hand in Hand."
Über die Jahrhunderte wurden die elf Schauseiten des Altars je nach Zeitpunkt im Kirchenjahr und Gottesdienstvorschrift auf- oder zugeklappt. Während die Mönche direkt vor Bildern zu Advent, Weihnachten, Passionszeit oder Marien-Festtagen beteten, durfte das gemeine Volk die Tafeln nur durch den Lettner betrachten: eine raumhohe, reichverzierte Schranke, die Chor und Langhaus trennte. Laien hatten keinen direkten Zugang zum Altar und konnten die Darstellungen nur aus der Ferne und im Schummerlicht betrachten.
Plastische Darstellung der Qualen Jesu
Grünewalds Bildsprache war exzessiver als die seiner Zeitgenossen Dürer oder Cranach. In der detaillierten Darstellung des leidenden Christus am Kreuz, der erlösenden Auferstehungsszene oder in der von Höllenwesen bevölkerten Heimsuchung des Antonius kommen naturalistische Darstellung und mystische Weltsicht Grünewalds meisterhaft zusammen.
Die Kreuzigung des Gottessohnes etwa, ein gängiges Motiv mittelalterlicher Andachtsbilder, wirkt bei Grünewald außergewöhnlich direkt. Nördlich der Alpen hat kein Maler vor ihm die Hinrichtung auf Golgatha, die Not und Qual des Gemarterten ähnlich brutal dargestellt: Der Körper seines Jesus ist von grünbläulichen Wunden übersät - Kennzeichen von Mutterkornpilzbrand: Der Messias leidet am "Antoniusfeuer" - wie damals viele Menschen.
Nicht nur auf seine Zeitgenossen machte Grünewalds Werk gehörigen Eindruck. Als der Altar gegen Ende des Ersten Weltkriegs nach München gebracht wurde, sah ihn der Schriftsteller Thomas Mann in der Alten Pinakothek. Er notierte in sein Tagebuch: "Starker Eindruck. Die Farben-Festivität der Madonnenscene geht mir in süßem Geschiller fast etwas zu weit. Das groteske Elend der Kreuzigung wirkt als mächtiger Kontrast", so Mann, aber: "Im Ganzen gehören die Bilder zum Stärksten, was mir je vor Augen gekommen." Auch Künstler des Expressionismus wie Max Beckmann, Paul Klee, August Macke oder Marianne von Werefkin ließen sich von Grünewald inspirieren. Der Komponist Paul Hindemith schrieb 1935 eine Sinfonie und eine Oper mit dem Titel "Mathis der Maler".
Isenheimer Altar ist Weltkulturerbe
Im September 1919 wurde der Isenheimer Altar nach Colmar zurückgebracht. Der Schriftsteller Elias Canetti stand 1927 einen ganzen Tag lang davor: "Ich sah den Leib Christi ohne Wehleidigkeit, der entsetzliche Zustand dieses Leibes erschien mir wahr", schrieb Canetti. "Vor dieser Wahrheit wurde mir bewusst, was mich an Kreuzigungen verwirrt hatte: ihre Schönheit, ihre Verklärung. Wovon man sich in der Wirklichkeit mit Grausen abgewandt hätte, das war im Bild aufzufassen."
Die Aufarbeitung hat den Blick auf Grünewalds Meisterwerk noch einmal radikal verändert. Der Isenheimer Altar zählt heute zum Weltkulturerbe. Mit ihm verfügt das Musée Unterlinden über eines der berühmtesten Meisterwerke der Spätgotik und wurde so - gleich nach dem Louvre - zum besucherstärksten Museum Frankreichs. Nach der Restaurierung dürfte sich das kaum ändern, ganz im Gegenteil.