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Ist die Arbeitslosen-Statistik "Volksverdummung"?

3. Januar 2018

Der deutsche Arbeitsmarkt brummt, die Arbeitslosigkeit hat offiziell den tiefsten Stand im vereinigten Deutschland erreicht. Doch den Zahlen ist nicht zu trauen, sagt der Ökonom Heinz-Josef Bontrup im DW-Gespräch.

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Bundesagentur für Arbeit in Leipzig Archiv 2011
Bild: picture-alliance/dpa

DW: Herr Professor Bontrup, Sie haben die Arbeitslosenstatistik einmal als "Volksverdummung" bezeichnet. Warum?

Bontrup: Weil die Zahlen manipuliert sind. Nicht durch die Bundesagentur für Arbeit, die erstellt und veröffentlicht sie nur. Aber die Politik hat durch mehrere Gesetze die Definition der Arbeitslosen verändert, die im Sozialgesetzbuch geregelt ist. Mit dem Ergebnis, dass die Zahlen nicht mehr die wirkliche Arbeitslosigkeit zeigen und damit die tatsächliche gesellschaftliche Betroffenheit von arbeitslosen Menschen in Deutschland zum Ausdruck gebracht wird.

Was fehlt in der offziellen Statistik?

In der Statistik fehlen zum Beispiel die Menschen, die 58 Jahre und älter sind. Die Politik sagt, diese Menschen haben keine hohe Wahrscheinlichkeit mehr für eine Vermittlung in den Arbeitsmarkt, deshalb können wir sie rausnehmen. Arbeitslose, die über die Agentur eine Weiterbildung machen, werden ebenfalls nicht als Arbeitslose mitgezählt. Und wenn ein Arbeitsloser sich morgens bei seiner zuständigen Arbeitsagentur krank meldet, gilt auch der nicht mehr als arbeitslos. Auch Ein-Euro-Jobber gelten nicht als arbeitslos. All das sind Menschen, die in Wirklichkeit arbeitslos sind, aber aus der Zahl der Arbeitslosen herausdefiniert wurden. Das sind schlimme Manipulationen, für die die Politik verantwortlich ist.

Prof. Bontrup
Prof. Heinz-Josef BontrupBild: Ulrich Zillmann

Wie viele Arbeitslose gäbe es denn, würden all diese Menschen berücksichtigt?

Wir hatten im November knapp 2,4 Millionen registrierte Arbeitslose. Da kann man fast eine Million wegdefinierte Arbeitslose hinzurechnen.

Dann wären wir bei 3,4 Millionen...

Die Bundesagentur spricht bei dieser zusätzlichen Million von Unterbeschäftigten. Aber der Begriff ist falsch, Unterbeschäftigung ist etwas anderes. Unterbeschäftigt sind Menschen, die zum Beispiel eine 20-Stunden-Woche haben, aber gerne 30 Stunden oder länger in der Woche arbeiten würden - das sind Unterbeschäftigte.

Seit der Wiedervereinigung ist das gesamte Arbeitsvolumen in Deutschland konstant geblieben und liegt bei etwa 60 Milliarden Stunden im Jahr. Aber dieses Volumen wird völlig anders verteilt als früher. Zwar arbeiten heute mehr Menschen. Dies aber nur, weil der Anteil der Teilzeitbeschäftigten drastisch angestiegen und der der Vollzeitbeschäftigten gesunken ist. So hat die Teilzeitquote bei den abhängig Beschäftigten von 17,9 Prozent (1991) auf 37,5 Prozent im Jahr 2016 zugenommen und die Vollzeitquote ging entsprechend von 82,1 auf 62,5 Prozent zurück.

Das sehen viele als Zeichen von Flexibilität im Arbeitsmarkt. Nicht jeder kann oder will Vollzeit arbeiten.

Das stimmt. Aber es gibt Untersuchungen, nach denen etwa drei Millionen Menschen, die Teilzeit arbeiten und wirklich unterbeschäftigt sind, gerne mehr arbeiten würden. Wenn man die zu den gerade genannten 3,4 Millionen Arbeitslosen hinzurechnet, dann sind wir schon bei 6,5 Millionen arbeitslosen und unterbeschäftigen Menschen in Deutschland. Das zeigt die ganze Katastrophe am deutschen Arbeitsmarkt.

Wie hoch sind die Kosten, die dadurch entstehen?

Die Bundesagentur führt dazu seit 2001 Untersuchungen durch. Demnach lagen die fiskalischen Kosten der Massenarbeitslosigkeit in Deutschland von 2001 bis 2015 (neuere Zahlen liegen nicht vor) pro Jahr bei gut 69 Milliarden Euro. Die gesamte deutsche Staatsverschuldung lag dagegen im gleichen Zeitraum im Jahresdurchschnitt bei 43 Milliarden Euro. Man kann also sagen, wenn es in Deutschland seit 2001 eine vollbeschäftigte Wirtschaft gegeben hätte, dann hätte der Staat ab 2001 nicht einen zusätzlichen Euro Kredit aufnehmen müssen, sondern sogar einen Überschuss von 26 Milliarden Euro erzielt. Da sieht man die ganze gesamtwirtschaftliche Dramatik der Massenarbeitslosigkeit in Deutschland.

 

Datenvisualisierung: Arbeitslosigkeit im EU-Vergleich

 

Die Politik macht die Vorgaben für die Arbeitslosenstatistik - und hat gleichzeitig ein Interesse daran, dass die Zahlen niedrig sind, weil das als Zeichen einer erfolgreichen Politik gilt.

Ja, das ist natürlich die Hauptmotivation der Politik. Es gab mehrere Gesetzesänderungen in den letzten Jahren, um Arbeitslose ganz einfach wegzudefinieren. Aber Arbeitslosigkeit wird ja nicht nur in absoluten Zahlen dargestellt, sondern auch relativ, als Arbeitslosenquote. Hier gibt es die nächste Manipulation. Die Quote ist ein Quotient, also ein Bruch. Je größer hier der Nenner, durch den geteilt wird, desto kleiner die Arbeitslosenquote.

Die Bundesagentur für Arbeit weist zwei Arbeitslosenquoten aus, und bei beiden ist der Nenner künstlich aufgebläht. Einmal stehen da alle zivilen Erwerbspersonen. Das sind nicht nur die abhängig Beschäftigten, die, wenn sie ihre Arbeit verlieren, wirklich als arbeitslos registriert werden, sondern auch alle Beamten (die von Arbeitslosigkeit nicht bedroht sind) und alle Selbständigen (die ebenfalls in der Regel nicht arbeitslos werden). In der zweiten Arbeitslosenquote der Bundesagentur sind dann zwar die Selbständigen rausgerechnet, aber die Beamten sind auch hier noch enthalten.

Die erste Arbeitslosenquote weist die Agentur für den November 2017 mit 5,3 Prozent aus und die zweite mit 5,9. Wenn man das richtig berechnen würde, also oben im Zähler mit den per Gesetz wegdefinierten Arbeitslosen und unten im Nenner nur die abhängig Beschäftigten, die auch wirklich arbeitslos werden können, dann hätten wir eine Arbeitslosenquote von etwa zehn Prozent in Deutschland. Und da sind dann die etwa drei Millionen Teilzeitbeschäftigten, die gerne Vollzeit arbeiten würden, nicht einmal mitgerechnet.

Gib es Länder, die ehrlichere Zahlen präsentieren?

In der Europäischen Union verhalten sich die einzelnen Länder ähnlich. Es gibt aber auch die Zahlen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), aber deren Arbeitslosenstatistik ist noch schlimmer und manipulativer. Die berücksichtigt nicht Arbeitslose, sondern sogenannte Erwerbslose. Für die ILO ist dabei ein Mensch dann nicht erwerbslos, wenn er mindestens eine einzige Stunde pro Woche arbeitet. Das kann man nur als zynisch werten. So werden dann auch international die Erwerbslosenquoten viel zu niedrig ausgewiesen. Und Ökonomen benutzen leider diese völlig verfehlten und manipulierten Quoten, um die Arbeitslosigkeit in den Ländern miteinander zu vergleichen. Ich habe für eine derartig massive Manipulation, die in der Tat an Volksverdummung grenzt, absolut kein Verständnis.

Trotz der von Ihnen angeführten Argumente scheint sich niemand an den Arbeitslosenstatistiken zu stören. Die Zahlen werden jeden Monat von Experten diskutiert, und mit ihnen wird Politik gemacht. Woran liegt das?

Das liegt daran, dass Politik kein Interesse hat, dem Volk die Wahrheit zu sagen. Es hört sich besser an, wenn ich sagen kann, die Arbeitslosenzahlen gehen zurück und die Erwerbstätigkeit steigt. Aber das ist, wie gesagt, manipulativ und hat mit der ökonomischen Realität nichts zu tun. Und außerdem will die herrschende Politik im Interesse der Kapitaleigner auch keine Vollbeschäftigung. Das würde nur die Interessen der abhängig Beschäftigten und die Macht der Gewerkschaften stärken. Unterm Strich liegt also insgesamt ein massives Politikversagen vor. Hierfür müssten unsere Volksvertreterinnen und Volksvertreter zur Rechenschaft gezogen werden.

Dr. Heinz-Josef Bontrup ist Professor für Wirtschaftswissenschaft mit Schwerpunkt Arbeitsökonomie an der Westfälischen Hochschule in Gelsenkirchen, Bocholt, Recklinghausen.

Das Interview führte Andreas Becker.

Andreas Becker
Andreas Becker Wirtschaftsredakteur mit Blick auf Welthandel, Geldpolitik, Globalisierung und Verteilungsfragen.