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Italien verlangt Flexibilität

Bernd Riegert12. September 2014

Die Finanzminister der EU beraten in Mailand über mehr Flexibilität beim strengen Sparkurs. Italien macht als EU-Ratspräsident im eigenen Interesse Druck. Premier Renzi braucht Erfolge und pocht auf mehr Investitionen.

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Mailänder Börse
Kritik an den Finanzmärkten: Obzöne Kunst vor der Mailänder BörseBild: DW/B. Riegert

Vor der Mailänder Börse, an der Italiens große Unternehmen gehandelt werden, machen die Makler gerade eine Raucherpause. Sie schauen auf den Vorplatz vor dem ehrwürdigen Palazzo der Börse und nehmen die riesige Marmorfaust, die elf Meter hoch den Mittelfinger in den blauen Himmel reckt, gar nicht mehr so recht wahr. Auf dem Höhepunkt der Finanzkrise hat der Künstler Maurizio Cattelan den "Stinkefinger" aus Protest gegen Bankenrettung und drohende Staatspleiten 2011 vor die Börse gestellt. Die Skulptur steht immer noch da und erinnert daran, dass die Banken- und Finanzmarktkrise in Italien noch keineswegs vorbei ist.

Die Banken leihen Unternehmen nur zögerlich Geld, sie haben immer noch viele faule Papiere in ihren Büchern. Die Wut der Italiener auf das ganze "System" ist groß. Sie haben protestiert und schließlich einen Sozialisten an die Macht gebracht, der es nach drei Regierungen in den letzten drei Jahren nun richten will: Matteo Renzi, 39, charismatischer, jugendlicher Ex-Bürgermeister von Florenz.

Auf die Menschen zugehen

Das Rauschen des Verkehrs und der Lärm, den die Touristen auf dem Domplatz in Mailand machen, können Paolo Zaranella nichts anhaben. Mit ausladenden Bewegungen haut er in die Tasten seines Flügels. Schmissige Klassiker gibt der Pianist in seinem kostenlosen Konzert mitten auf dem Platz zum Besten. Seit Jahren, seit Beginn der Wirtschaftskrise, ist der Musiker mit seinem Konzertflügel durch Italiens Städte unterwegs. "Die Leute gehen nicht mehr ins Theater, also kommt die Musik zu ihnen", beschreibt Paolo Zaranella seine Motivation. "Man muss neue Wege aus der Krise gehen. Ich verändere mit Musik die Welt."

Paolo Zaranella
Mit Musik geht alles besser: Pianist Paolo ZaranellaBild: DW/B. Riegert

"Kranker Mann Europas"

Innovation und neuen Schwung hat auch der italienische Ministerpräsident Matteo Renzi seinen Landsleuten verordnet. Seit einem halben Jahr ist er im Amt und kündigt immer neue Reformen in Wirtschaft, Justiz, Bildung und Staatswesen an. Trotzdem ist Italien im Sommer wieder in eine leichte Rezession abgeglitten. Die Arbeitslosenquote liegt über 12 Prozent. Arbeitnehmer und Betriebe stöhnen unter einer hohen Steuerlast, die die Vorgängerregierungen eingeführt hatten, um die Staatsschulden bezahlen zu können.

So optimistisch wie Premier Renzi oder gar Pianist Zaranella geht Tito Boeri nicht ans Werk. Tito Boeri ist Professor für Wirtschaftwissenschaften an der Mailänder Bocconi-Universität und beobachtet Renzis Reformeifer und die Reaktion der Europäischen Union sehr genau. "Ohne Zweifel ist Italien im Moment der kranke Mann Europas. Es ist sehr schwer zu sagen, ob das ein langer Abstieg werden wird oder ob es sich nur um eine kurze Rezession handeln wird." Italienier würden heute das gleiche Pro-Kopf-Einkommen pro Jahr erzielen wie im Jahr 1989, so Tito Boeri. "Wir haben also 25 Jahre verloren, in denen andere Länder zugelegt haben."

Zu viel Reformeifer schadet?

Die Reformen, die Matteo Renzi anpacken will, sind im Prinzip alle richtig, bestätigt Tito Boeri. Jahrzehntelang habe Italien die Probleme vor sich hergeschoben. Der verkrustete Arbeitsmarkt müsse zum Beispiel reformiert werden. Renzi wolle aber zu viel auf einmal machen. Vor einigen Tagen hat er ein Programm für 1000 Tage und eine Reform des Bildungswesen und der Justiz angeschoben. "In gewisser Weise ist seine Agenda einfach zu umfangreich. Er fängt alles an, ohne etwas wirklich zu Ende zu führen", kritisiert Wirtschaftsprofessor Tito Boeri. Im zweiten Halbjahr 2014 ist Matteo Renzi auch noch der Ratspräsident der Europäischen Union. Dieses Ehrenamt will er nutzen, um die Sparpolitik in der Euro-Zone aufzuweichen. Das sei auch richtig, findet Tito Boeri. Die EU müsse mit Investitionsanreizen und höheren Ausgaben den Krisenländern helfen, meint der Wirtschaftsfachmann.

Tito Boeri
Tito Boeri: Reformen auch zu Ende bringenBild: DW/B. Riegert

"Deutschland sollte sich klar darüber sein, dass das Leiden von Randstaaten in der Eurozone sich irgendwann auf Deutschland auswirken wird. Der Schuss geht nach hinten los. Deshalb sind die Probleme Italiens Probleme der ganzen Euro-Zone. Es muss also Wege geben, auf europäischer Ebene eine antizyklische Wirtschaftspolitik zu betreiben, wenn man die enormen Unterschiede in der Handelsbilanz und bei der Staatsverschuldung sieht."

EU soll mit für Wachstum sorgen

Der sozialistische Premier Renzi will im Verbund mit dem sozialistischen französischen Präsidenten Francois Hollande, die ablehnende Haltung Deutschlands und anderer stabiler Euro-Staaten gegenüber Konjunkturprogrammen und mehr staatlichen Investitionen aufweichen. Er glaubt sich auf gutem Weg. "Sehr, sehr, sehr gut, dass man sich zum ersten Mal in der Substanz auf das Wachstum konzentrieren will. Wir wollen die Regeln des Stabilitätspaktes ja gar nicht aushebeln. Wir wollen aber, dass im Geiste des Vertrages über Stabilität und gleichwertig über Wachstum gesprochen wird", frohlockte Matteo Renzi nach dem letzten regulären EU-Gipfel im Juni. Italien will auch im kommenden Jahr unter der Grenze für Neuverschuldung von drei Prozent des Bruttoinlandsproduktes bleiben, allerdings ist der Gesamtschuldenstand mit 132 Prozent der zweithöchste in der ganzen Euro-Zone. Im Moment leihen die Finanzmärkte Italien Geld zu erträglichen Zinsen. Wie lange dieses Vertrauen hält, weiß aber niemand.

Matteo Renzi und Manuel Valls
Gemeinsam gegen den Sparkurs: Matteo Renzi (li.) und Frankreichs Premier Manual Valls brauchen ErfolgeBild: picture-alliance/dpa

"Italien hat wenigstens schon einmal begonnen"

Die Europäische Union und die Europäische Zentralbank, die ja auch von einem Italiener, Mario Draghi, geführt wird, sollten den Druck mit billigem Geld zu einem gewissen Grad abmildern, meint Wirtschaftprofessor Tito Boeri. "Italien leidet an der Rezession und gleichzeitig müssen die Banken ihre Eigenkapitalquote erhöhen. Das führt dazu, dass Firmen immer schwieriger an Kredite herankommen, viel schwieriger als in Deutschland. Das muss auf europäischer Ebene angepackt werden. Die Politik der Europäischen Zentralbank ist in dieser Hinsicht eine positive Entwicklung." Mario Draghi hatte den Leitzins der EVB kürzlich auf nahe Null abgesenkt und den Ankauf von Kreditpapieren von Unternehmen und Banken angekündigt, die vor einiger Zeit noch als "Ramsch" verschrien waren.

Ob Italiens Premier Renzi seine ehrgeizigen Reformen durchziehen kann und wirklich noch 1000 Tage im Amt bleiben wird, kann der Ökonom Tito Boeri angesichts des innenpolitischen Hickhacks in Italien und immer möglicher vorgezogener Parlamentswahlen nicht vorhersagen. "Ich hoffe wirklich, dass das am Ende hinhaut. Die Dinge müssen hier in Italien umgesetzt werden, aber auch die Initiative der EU ist extrem wichtig." Und ein Seitenhieb auf Frankreich, über das gerade alle reden, müsse auch noch sein. Die Wirtschaftsdaten für Italien seien schlechter als die für Frankreich, konstatiert Tito Boeri, aber "wir haben wenigstens schon mal mit Reformen zum Beispiel bei der Rente angefangen, über die Frankreich immer noch redet."

Am Freitag beraten die europäischen Finanzminister in Mailand bei ihrer informellen Tagung weiter Wege aus der Rezession und Deflationsgefahr. Italien will für eine günstigere Berechnung des Defizits werben, indem einfach Investitionen in Bildung oder Infrastruktur nicht mitgerechnet werden. Frankreich hat bereits angekündigt, dass es die Defizitgrenzen nicht einhalten wird. Und Deutschland: Die Kanzlerin hat am Mittwoch in ihrer Regierungserklärung verfügt, dass der Sparkurs in Europa beibehalten werden müsse. Ausgeglichene Haushalte seien das Endziel. Da wird Italiens Premier als EU-Ratspräsident noch viel Überzeugungsarbeit leisten müssen.