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Politik

Wo bleibt der Aufschrei?

31. August 2020

Tausende demonstrierten am Samstag Seite an Seite mit Rechtsradikalen. Jeder Demokrat müsste darüber schockiert sein, auch wenn er gegen die Corona-Politik ist, meint Jaafar Abdul Karim.

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Zitattafel Jaafar Abdul Karim

Es ist Samstag, und ich laufe durch die Menschenmenge in der Nähe des Brandenburger Tors in Berlin. Ich sehe Menschen, sehr unterschiedliche Menschen. Was mich interessiert, sind die Symbole und die Schilder. Und ich möchte mit möglichst vielen Demonstrierenden sprechen.

Ich lese auf Plakaten: "Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht" oder "Gib Gates keine Chance" und "Lehrer für Aufklärung". Ich sehe Schilder mit Bildern der Bundeskanzlerin. Sie ist als Häftling und mit einem "Schuldig"-Stempel dargestellt, ich lese immer wieder "Grundgesetz Artikel 8", viele Schilder mit Herzen und Blumen oder "Stop Corona Lüge".

Völlig heterogene Ansammlung

Seit 2015 habe ich über verschiedene Demos in Deutschland berichtet, aber solch eine heterogene Ansammlung habe ich noch nicht erlebt. Für einen Moment empfinde ich es als gelebte Demokratie und eine Abbildung der Vielfalt der deutschen Gesellschaft. Aber dann, ich spreche gerade mit einer Frau, läuft eine Gruppe von Männern vorbei. Einer trägt eine schwarz-weiß-rote Flagge. Es ist die sogenannte Reichsflagge, die Nationalfahne des deutschen Kaiserreichs und der Nazidiktatur bis 1935. Rechtsextreme nutzen diese Flagge häufig.

Ich bin so perplex und schockiert, dass ich das Gespräch mit der Demonstrantin abbreche. Direkt neben der Reichsflagge weht eine bunte Peace-Fahne. Wie kann das sein? Warum?

Ich treffe eine vierköpfige Familie, die die Maskenpflicht für Schülerinnen und Schüler in der Schule ablehnen. Ich frage: "Wissen Sie, dass Sie hier Seite an Seite mit Rechtsextremem laufen?" Ich bekomme zur Antwort: "Nein, das tun wir nicht. Sie machen ihr Ding und wir unseres."

Jeder konnte wissen, welche Leute mitmarschieren

Wie kann man nicht sehen wollen, was hier wirklich passiert? Dass Rechtsradikale und Neonazis aufgewertet werden und gesellschaftliche Akzeptanz erfahren, weil sich niemand von ihnen distanziert. Es ist auch nicht so, dass die Teilnehmenden der Demo nicht wissen konnten, was für Leute hier mitmarschieren, zuvor haben rechtsextreme Gruppen massiv mobilisiert. Tagelang wurde im Internet, in einschlägigen Foren und in Telegram zur Teilnahme an der Demonstration aufgerufen.

Wo ist der Wille, sich von den Rechtsextremen abzugrenzen? Warum hat die Frau, mit der ich gesprochen habe, mich nicht unterbrochen, sich geäußert und von der Flagge distanziert? Solidarisiert sich nicht jeder, der hier nichts sagt? Mir macht es Angst, dass die "Anti-Corona-Maßnahmen"-Demonstranten sich somit mit den Rechtsextremen verbünden.

Jaafar Abdul Karim im Gespräch mit Demonstranten gegen Corona-Maßnahmen am Samstag (29.08.) in Berlin
Jaafar Abdul Karim im Gespräch mit Demonstranten am Samstag in BerlinBild: DW/J. Abdul Karim

Seite an Seite mit Antisemiten und Rassisten

Ist den Menschen bewusst, dass sie ausgenutzt werden? Denn sie laufen Seite an Seite mit Antidemokraten, Antisemiten, Rassisten, Xenophoben. Wie soll ich das verstehen? Diese Antidemokraten lehnen das Recht für Meinungsfreiheit und Demonstration ab. Angenommen, sie würden in Deutschland regieren, so dürften "Anti-Corona-Maßnahmen"-Demonstranten bestimmt nicht protestieren. Wenn das von ihnen gewünschte Regime an der Macht wäre, dürfte solch eine Demonstration nicht stattfinden.

Ich denke immer noch, dass es richtig war, dass die Kundgebung von den Gerichten erlaubt wurde, nachdem die Berliner Polizei und der Innensenator sie verbieten wollten. Das ist Demokratie. Aber Demokratie ist auch, zu entscheiden, an welcher Demo man teilnimmt. Menschen, die hier mitlaufen, müssen sich fragen lassen, ob sie eigentlich bereit wären, ihre politischen Ziele zu Lasten von Werten durchzusetzen, die unsere freiheitlichen und demokratischen Werte ausmachen.

So holt man Nazis in die Mitte der Gesellschaft

Niemand ist gezwungen, auf einem solchen Protestzug mitzulaufen. Jeder hat die Wahl, Nein zu sagen, eine andere Demonstration anzumelden und sich ganz klar von den Nazis zu distanzieren. Wer dies unterlässt, holt die Nazis in die Mitte der Gesellschaft. "Sie gehören zu uns. Sie haben die gleichen Sorgen", heißt es dann bisweilen. Nein, das haben sie nicht, und das tun sie nicht. Sie sind Antisemiten, Antidemokraten, Rassisten! Das sind sie und das bleiben sie. Der Sturm auf den Reichstag zeigt dies überdeutlich, denn der Reichstag ist das Symbol für die Demokratie in Deutschland. Was Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sagt, stimmt voll und ganz: Es war ein "Angriff auf das Herz unserer Demokratie".

Meiner Meinung nach läuft die Debatte in Deutschland zu weich. Es ist keine Option, einfach zu ignorieren, was am Samstag passiert ist, als würde sich das Problem von selbst wieder erledigen. Wir brauchen eine harte Auseinandersetzung darüber, wie viel Platz wir den Rechtsextremen in der Mitte geben. Und wir brauchen eine Debatte über die Verantwortung jedes Einzelnen, der mit ihnen marschiert, ohne sich zu distanzieren.

Ich wünsche mir einen Aufschrei.

Jaafar Abdul Karim, 38, ist Redaktionsleiter und Moderator der arabischsprachigen Jugendsendung "Jaafar Talk" der Deutschen Welle. Das Format erreicht mit seinen gesellschaftskritischen Themen ein Millionenpublikum in Nordafrika, Nahost und der Golfregion. Geboren wurde Jaafar Abdul Karim in Liberia, seine Eltern stammen aus dem Libanon. Dort sowie in der Schweiz wuchs er auf, studiert hat er in Dresden, Lyon, London und Berlin, wo er heute lebt. Seine Kolumne heißt "Jaafar, shu fi?", arabisch für: "Jaafar, was geht?"