Jemen: Das Coronavirus rückt näher
16. April 2020Die Familie von Hind Mohamed ist beunruhigt: Anfang der Woche wurde der erste offizielle Fall einer Corona-Infektion im Jemen bekannt. Zwar lebt der Erkrankte, ein sechzigjähriger Hafenarbeiter, in der Stadt Al-Shar in dem östlich gelegenen Gouvernement Hadramaut. Doch die Nachricht verbreitete sich umgehend und versetzte auch die Bewohner der Hauptstadt Sanaa in Sorge. Auch dort bereitet sich die Bevölkerung seit Wochen auf den Ausbruch der Pandemie vor. Hinds Familie ist jetzt noch einmal vorsichtiger: Ihre Mitglieder verlassen das Haus nun nur noch für die notwendigsten Besorgungen.
Am Montag (13.4.) hatte das jemenitische Gesundheitsministerium die Infektion bekannt gegeben. Breitet sich die Krankheit aus, trifft sie auf ein Land, das darauf kaum angemessen vorbereitet ist. Seit fünf Jahren befindet sich derJemen in einem Bürgerkrieg. Dieser ist längst zu einem internationalen Konflikt ausgewachsen. Eine von Saudi-Arabien angeführte internationale Koalition unterstützt den Präsidenten des Landes, Abed Rabbo Mansur Hadi. Ihm gegenüber stehen die aufständischen Huthis, die dem Iran nahestehen und seit 2014 unter anderem die Hauptstadt Sanaa kontrollieren.
Die Kämpfe machten über 3,6 Millionen Bürger des Landes zu Binnenflüchtlingen. Über 24 Millionen Jemeniten – rund 80 Prozent der Bevölkerung - sind nach Auskunft des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) auf humanitäre Hilfe angewiesen. Dennoch sah sich das Welternähungsprogramm der UN (WFP) dieser Tage gezwungen, seine Hilfe für das Land aus schlichtem Geldmangel drastisch um rund 50 Prozent zu kürzen. Notleidende Familien sollen deshalb bereits ab diesem Monat nur noch alle zwei Monate Unterstützung erhalten, statt wie bisher einmal pro Monat.
Nach dem weitgehenden Zusammenbruch des Gesundheitssystems brach im Jemen 2017 überdies die Cholera aus – insgesamt 2,3 Millionen Menschen sind betroffen. Um zu verhindern, dass sich nun auch noch Covid-19 ausbreitet, haben die Vereinten Nationen die Kriegsparteien zu einem Waffenstillstand aufgerufen. Die Internationale Koalition hatte sich daraufhin zu einer zunächst zweiwöchigen Waffenruhe bereit erklärt. Die Position der gegnerischen Huthis hierzu ist bislang noch unklar.
Katastrophe zu befürchten
"Der Jemen war bis kürzlich eines der letzten Länder weltweit, das keine Corona-Infektion verzeichnete", sagt Claire Ha-Duong, Projektleiterin von Ärzte ohne Grenzen im Jemen, im Gespräch mit der DW. Doch wieviel sagt dies über die Realität aus? "Wir führen dies auf die mangelhafte Testfähigkeit des Landes zurück. Vermutlich ist das Virus aber bereits seit einiger Zeit im Lande, ohne dass es allerdings entdeckt wurde." Die Ausbreitung von Covid-19 könnte im Jemen katastrophale Auswirkungen haben, fürchtet sie. "Da es weder persönliche Schutzausrüstungen noch angemessene Kontrollen gibt, ist es dem Land unmöglich, sich auf die Epidemie vorzubereiten."
Die Voraussetzungen, das Virus zu bekämpfen seien eingeschränkt, bestätigt auch Yusef Al-Hadri, Sprecher des Gesundheitsministeriums der mit den Houthis verbundenen Gegenregierung in Sanaa. Der Krieg und die Blockade des Landes verhinderten, dass medizinische Ausrüstung in ausreichender Menge ins Land komme. Es gebe derzeit rund 3000 Test-Kits, so Al-Hadri im DW-Interview. "Davon haben wir bislang einige hundert verwendet."
Die Geräte befänden sich zu gleichen Mengen in Sanaa und in Aden, dem Sitz der international anerkannten Regierung. "Getestet haben wir vor allem aus dem Ausland einreisende Personen sowie solche, bei denen ein begründeter Infektionsverdacht bestand." Trotz aller Mängel, so der Ministeriumssprecher in Sanaa, seien Ministerien, Industrie und Handel sowie die Krankenhäuser auf den Ausbruch der Pandemie so gut wie eben möglich vorbereitet.
"Paradoxe Situation"
Dennoch sorgt die Nachricht der ersten Corona-Infektion für Unruhe. Vielen wird möglicherweise erst jetzt richtig klar, dass das Fehlen einer größeren Anzahl offiziell registrierter Infektionen keineswegs automatisch Sicherheit bedeutet. Auch ihre Familie sei nun sehr vorsichtig, sagt Hind Mohamed. Bislang, erzählt sie, habe man sich immer eher Sorgen um Hisham und Nasr gemacht, Hinds ältere Brüder, die beide im Ausland leben. Der eine studiert in Europa, der andere arbeitet in einem arabischen Land. Beide berichteten Hind schon regelmäßig über die Corona-Situation in ihren Aufenthaltsländern, als dies im Jemen noch kaum ein Thema zu sein schien.
Das sei schon eine "paradoxe Situation" gewesen, so Hind im Gespräch mit der DW: "Früher waren es meine beiden Brüder, die im Ausland klar in Sicherheit waren. Beide riefen uns fast täglich an, um sich über unsere Lage angesichts des Krieges und der sich verschlechternden Gesundheitsbedingungen zu informieren. Doch seit es Corona gibt, waren wir es meistens, die sich Sorgen um unsere Brüder im Ausland gemacht haben."
Sorgen macht sie sich nun auch um ihre Familie vor Ort. Die Schutzmaßnahmen, die ihre Familie jetzt nach dem ersten Infektionsfall im Jemen getroffen haben, seien aber angemessen, meint sie. "Wir gehen jetzt zwar kaum mehr aus dem Haus, aber die Situation hier scheint uns immer noch weniger gefährlich als die im Ausland."
Begrenzte Kapazitäten
Doch nun könnte auch der Jemen am Anfang einer Pandemie stehen. Es dürfte schwierig werden, das Virus in dem Land zu bekämpfen, warnte kürzlich Lise Grande, UN-Koordinatorin für humanitäre Einsätze im Jemen. Eine Pandemie im ärmsten Land der arabischen Halbinsel könne noch ernstere Auswirkungen haben als in anderen Ländern.
Zwar leisten ausländische Organisationen Hilfe, doch die ist längst nicht ausreichend. "Wir standen während der vergangenen Wochen mit Behörden im ganzen Land in Kontakt", sagt Claire Ha-Doung von der Organisation Ärzte ohne Grenzen. Ihre Organisation habe beim Aufbau von Behandlungszentren für Corona-Fälle sowohl in Aden wie auch in Sanaa geholfen, erklärt sie, es gebe eine Zusammenarbeit mit beiden Kriegsparteien.
Außerdem leisteten Ärzte ohne Grenzen Hilfe für Krankenhäuser in 13 der 22 Gouvernements des Landes. "Wir werden versuchen, die Behörden in den kommenden Wochen in der Corona-Krise so gut wie möglich weiter zu unterstützen", so Ha-Duong. "Doch ohne weiteres Personal und Material bleiben unsere Möglichkeiten begrenzt."