"Das Urteil ändert nichts für Kroatien"
4. Dezember 2017Im letzten Berufungsverfahren gegen die sechs früheren Anführer der bosnischen Kroaten hat der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) in Den Haag ein früheres Urteil bestätigt. Demnach gehörte auch die damalige Führung Kroatiens zu den "Schlüsselfiguren in dem gemeinsamen kriminellen Unternehmen." Das Ziel, so das Haager Tribunal, sei gewesen "bestimmte Gebiete von bosnischen Muslimen ethnisch zu säubern, und zwar durch gezieltes Verüben der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, durch schwere Verstöße gegen die Genfer Konvention sowie durch andere Kriegsverbrechen." In Kroatien rief dieses Urteil heftige Reaktionen hervor. Dort lehnt man diese Einschätzung überwiegend ab. Manche Kommentatoren haben auch die Befürchtung geäußert, dass dadurch jetzt den möglichen Reparationsforderungen Bosnien-Herzegowinas gegenüber Kroatiens der Weg geebnet wurde.
DW: Herr Ambos, hat Sie das Haager Kriegsverbrechertribunal für Ex-Jugoslawien in seinem letzten Urteil - mit der Begründung und dem Strafmaß - überrascht?
Kai Ambos: Nein, eigentlich nicht. Denn es bestätigt die bisherige Rechtsprechung, insbesondere das, was dieses "gemeinsame kriminelle Unternehmen" (engl.: "joint criminal enterprise") angeht, das die Kammer übernommen und bestätigt hat. Und im Rahmen der Strafzumessung besteht ein großes Ermessen der Richter, wie auch im nationalen Recht.
In Kroatien ist die Aufregung groß, weil man dieses Urteil als Schuldzuweisung für das Kriegsgeschehen in Bosnien-Herzegowina versteht. In wie weit ist das gerechtfertigt?
Es ist erstaunlich, dass die Aufregung immer die gleiche ist. Die Woche davor hatten wir es mit Mladic in Serbien und im serbischen Teil Bosnien-Herzegowinas, und jetzt haben wir es in Kroatien. Es ist fast schon ein Standardritual geworden, dass die Leute in diesen Ländern, ihre Regierungen und die Politiker - in diesem Fall sogar quer durch die Bank - diese Urteile ablehnen. Es geht hier natürlich nicht um die Verantwortlichkeit Kroatiens, es ist ja kein völkerrechtliches Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof. Es geht um die individuelle Verantwortlichkeit der Angeklagten. Dass man sagt, es gab ein "kriminelles Unternehmen" zur ethnischen Säuberung des von Kroatien beanspruchten Teils Bosnien-Herzegowinas ist eine Figur, die das ICTY schon seit mehr als 20 Jahren, seit dem Tadic-Verfahren, verwendet. Es ist also auch keine Besonderheit.
Muss Kroatien jetzt Entschädigungsforderungen von Opfern und Reparationsforderungen aus Bosnien-Herzegowina fürchten?
Die Rechtslage hat sich durch dieses nicht Urteil geändert, weil das Urteil nicht die staatliche Verantwortlichkeit Kroatiens festlegt. Die Voraussetzung irgendwelcher Haftungsansprüche gegenüber dem Staat Kroatien wäre eine Festlegung von Staatenverantwortlichkeit, "state responsibility". Das ist aber gar nicht die Aufgabe des Jugoslawien-Tribunals. Da müsste ein völkerrechtliches Gericht wie der Internationale Gerichtshof urteilen. Man kann es auch vor nationalen Gerichten geltend machen. Wir haben hier in Deutschland solche Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gehabt. Aber das sind ganz andere Verfahrensschritte. Es wird in dieser Diskussion leider Gottes alles durcheinandergeworfen.
Wie ist der Vorfall mit Slobodan Praljak am letzten Tag dieses Tribunals zu bewerten?
Auch da müssen wir erstmal von dem ausgehen, was eigentlich passiert ist. Wir hatten es ja schon in Nürnberg mit Hermann Göring. Es ist eine autonome Entscheidung jedes Menschen, sich das Leben zu nehmen. Und Herr Praljak hat eben entschieden, dass er mit dieser Schmach der Bestätigung der erstinstanzlichen Verurteilung nicht leben kann. Natürlich muss man sich fragen, wie das Gift bei den Sicherheitsvorkehrungen in den Gerichtssaal oder ins Gefängnis in Scheveningen kommen konnte. Aber da gibt es jetzt Ermittlungen der Niederländer, und man kann nicht sagen, dass sie nicht unabhängig seien. Auch da finde ich: Dem Tribunal gleich den Vorwurf zu machen ist falsch. Denn die Grundentscheidung war die des Angeklagten, sich zu töten. Er hätte ja nicht mehr viel Freiheitsstrafe gehabt. Man sollte sich vielleicht eher mit der Psychologie von Slobodan Praljak beschäftigen. Ich war im Gotovina-Verfahren beteiligt. Diese Militärs haben oft ein sehr hohes Ehrgefühl und können einfach damit nicht mehr leben. Aber das sind alles individuelle Faktoren.
Kai Ambos ist Professor für Strafprozessrecht und internationales Strafrecht an der Georg-August-Universität Göttingen und Leiter der Abteilung "Ausländisches und internationales Strafrecht" des Instituts für Kriminalwissenschaften. Seit Februar ist er Richter am Kosovo-Sondertribunal in Den Haag. Er war einer der Verteidiger der kroatischen Generäle Gotovina und Markac vor dem ICTY (2010/2011).
Das Gespräch führte Dunja Dragojević.