"Jetzt sind Balkanstaaten mit Aufarbeitung dran"
2. Dezember 2017Deutsche Welle: Nach dem letzten Prozess ist das Internationale Jugoslawien-Tribunal (ICTY) zu Ende. Wie fällt Ihre Bilanz nach dem Selbstmord von Slobodan Praljak aus?
Wolfgang Petritsch: Ich muss wirklich sagen, dass ich sehr schockiert war von dem Selbstmord des Verurteilten. So etwas darf einfach nicht passieren. Da sind schwere Sicherheitsfehler, die unentschuldbar sind. Abgesehen davon hat der Strafgerichtshof seine Relevanz bei der Aufarbeitung der Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien bewiesen. In Den Haag wurde durch die unglaubliche Menge an Zeugenaussagen und Recherchen eine Art Archiv der Jugoslawien-Tragödie angelegt, auf das spätere Generationen zurückgreifen können. Die Versöhnungsarbeit muss allerdings in der Region selbst passieren. Da müssen die Menschen und die Politik die Initiative ergreifen.
Die internationalen Kriegsverbrechertribunale sind vorbei. Was muss nun auf nationaler Ebene passieren?
Der Fokus liegt eindeutig auf der nationalen Gerichtsbarkeit. Ich war ja selbst Anfang 2000 federführend damit beschäftigt, in Bosnien den Strafgerichtshof zu etablieren. Er hat neben der Korruptionsbekämpfung die Aufgabe, die Kriegsverbrecherprozesse fortzuführen und auch neue anzustrengen. Da muss jetzt durchgestartet werden. Ich halte die Eigenverantwortung der Staaten, die von dieser Tragödie betroffen sind, für sehr wichtig. Darüberhinaus muss die Zivilgesellschaft, die ja gerade in Serbien sehr stark ist und schon viel geleistet hat, eine gemeinsame Aufarbeitung zustande zu bringen. Diese muss in den einzelnen Ländern und auch zwischen den Nachfolgestaaten endlich einmal die Gänge kommen.
War der Internationale Strafgerichtshof der falsche Ansatz? Hätte man nicht gleich Prozesse vor Ort führen sollen, um die Vorwürfe gegenüber einer externen Justiz zu vermeiden?
Ausgangspunkt für den zeitlich beschränkten internationalen Strafgerichtshof war die Tatsache, dass Bosnien-Herzegowina de facto völlig zerstört war und über keinerlei Institutionen verfügte, mit denen man diesen schwierigen Prozess in Angriff hätte nehmen können. Während meiner Zeit als Hoher Repräsentant für Bosnien und Herzegowina umfasste der Aufbau staatlicher Institutionen auch die Arbeit für eine funktionierende Justiz, die dann in der Lage ist, die Vergangenheit aufzuarbeiten. Das ist teilweise gelungen. Sicher noch nicht gelungen ist es, die Opferrolle, die jedes Volk und jede Ethnie für sich reklamiert, aufzubrechen und ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass man Täter und Opfer gleichzeitig sein kann. Diese Erkenntnis wird auch zum Teil von der Politik hintertrieben, wie wir gerade in Zagreb sehen.
Was muss von internationaler Seite passieren, um diesen Prozess der ehrlichen Aufarbeitung zu befördern?
Wenn man eine Lehre aus Den Haag ziehen soll, insbesondere angesichts der letzten tragischen Ereignisse, die leider alle Urteile überschatten, dann ist es wohl die, dass alle, die daran beteiligt waren, diese Aufarbeitung leisten müssen. Wie auch immer sie an den Ereignissen beteiligt waren, als Opfer oder als Täter, alle müssen ernsthaft damit beginnen.
Viele Spitzenpolitiker verharren noch in ihren nationalen und ethnischen Narrativen. Milorad Dodik, Präsident der Republika Srpska, geht sogar soweit, Grenzen in Frage zu stellen.
Ich bin davon überzeugt, dass die Infragestellung von Grenzen nur zu weiteren Tragödien führt. Ich glaube, dass das ethnisch-territoriale ein Faktor ist, aber nicht der alles Entscheidende in der Befriedung der Region sein kann. Im Gegenteil, die europäische Integration macht ja deutlich, dass man nur in einem grösseren Raum Gemeinsamkeiten leben kann, sowohl wirtschaftlich als auch kulturell. Gerade für Serben sollte es die absolute Priorität sein, an diesem vereinten Europa mitzubauen. Denn nur in einem vereinten Europa werden Serben so zu sagen vereint sein. Eine Vereinigung dieses multiethnischen, multinationalen und was immer Gebilde, das einmal Jugoslawien war, kann nicht mehr rekonstruiert werden, sondern nur in einem grösseren Europa tatsächlich eine positive Wirkung entfalten. Diese Zukunftsvision müsste man viel stärker in den Köpfen und Herzen der Menschen verankern.
Warum vertreten Politiker aus der Region nicht diese europäische Perspektive?
Weil es immer um Machtfragen geht. Und Machtfragen werden im ehemaligen Jugoslawien eben entlang ethnischer Grenzen definiert. Das ist ein schwerer Fehler, weil er jede positive Entwicklung zurückhält. Rückblickend hat die ethno-nationalistische Politik der Bevölkerung in Bosnien nichts gebracht. Es sind jetzt mehr als zwanzig Jahre seit dem Kriegsende vergangen. Wenn man das mit der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg vergleicht, müsste es jetzt dort ein Wirtschaftswunder geben, so wie damals in Deutschland. Die Region des ehemaligen Jugoslawien ist davon noch weit entfernt.
Muss Brüssel Bosnien stärker in den Blick nehmen und eine Beitrittsperspektive anbieten?
Bosnien ist das schwächste Glied in der Kette des Westbalkans. Und da müsste Brüssel stärker als bisher den politischen Willen demonstrieren, dass es dieses Land trotz seiner politischen Probleme in der EU haben möchte. Diese Message kommt nicht rüber! Sie wirkt vielmehr wie ein bürokratischer Prozess und drückt nicht den Glauben an die Zukunftsfähigkeit der Region aus. Diese Zukunft gibt es nur in der EU. Und da sollte man die Menschen dort, die dafür bereit sind, ermutigen, für den europäischen Weg zu werben. Denn nur auf diese Weise wird es gelingen, auch in Bosnien eine neue Politik anzuschieben. Das ist eine wichtige Aufgabe, die die EU bisher vernachlässigt hat. Leider verlassen gerade jüngere Generationen viel zu oft das Land.
Der österreichische Diplomat und Sozialdemokrat Wolfgang Petritsch war von 1999 bis 2002 Hoher Repräsentant für Bosnien und Herzegowina. In dieser Funktion leitete er die Umsetzung des am 14. Dezember 1995 unterzeichneten Friedensvertrages von Dayton, das von den damaligen Präsidenten Slobodan Milošević (Serbien), Franjo Tuđman (Kroatien) und dem Vorsitzende im bosnisch-herzegowinischen Präsidium Alija Izetbegović unterzeichnet wurde.
Das Gespräch führte Adelheid Feilcke.