Von der Leyen - von Berlin an die EU-Spitze?
3. Juli 2019Sie wurde vor gut 60 Jahren in einem Vorort von Brüssel geboren, ihr politischer Weg könnte sie plötzlich zurückführen in die belgische und europäische Hauptstadt. Am Dienstag zauberten die EU-Staats- und Regierungschefs die deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen aus dem Hut - und nominierten sie als Nachfolgerin von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker.
Sie wäre die erste Frau auf diesem Posten. Aber darüber entscheiden wird erst das EU-Parlament in der Woche ab dem 15. Juli in Straßburg. Dort übten vor allem Sozialdemokraten und Grüne scharfe Kritik an der Personalie. Von der Leyen sei "nicht akzeptabel" und ihre Nominierung "zutiefst enttäuschend", hieß es. Ihre Bestätigung ist somit keineswegs nur eine Formsache.
Vom EU-Gipfel als neue EZB-Chefin nominiert: IWF-Direktorin Christine Lagarde
Soll neuer EU-Ratspräsident werden: Belgiens Ministerpräsident Charles Michel
Soll neuer Außenbeauftragter werden: Spaniens Außenminister Josep Borrell
Ihre ersten 13 Lebensjahre verbrachte von der Leyen in Brüssel. Ihr Vater, der spätere niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht, arbeitete damals in führender Position bei der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Europäischen Gemeinschaft (EG), den Vorgänger-Institutionen der EU. Auch deshalb spricht von der Leyen anders als viele ihrer Berliner Kabinettskollegen fließend Englisch und Französisch und bewegte sich immer schon sicher auf internationalem Parkett.
In den Bundeskabinetten von Kanzlerin Merkel hatte von der Leyen diverse Ministerposten inne. Immer ging sie mit ähnlichem Elan an die neue Aufgabe, hinterfragte Bestehendes, wirbelte Strukturen auf und sorgte mit ihrem Durchsetzungsvermögen gelegentlich auch für leise Verärgerung in den Koalitionsfraktionen.
Familie, Arbeit, Verteidigung
Zunächst war die siebenfache Mutter von 2005 bis 2009 Familienministerin und setzte mit ihrer für den etablierten Berliner Politikbetrieb zum Teil unkonventionellen Art deutliche Signale. So setzte sie das sogenannte Elterngeld aufs Gleis und brachte mit starker finanzieller Förderung des Bundes den bundesweiten Ausbau der Kinderbetreuung auf den Weg.
2009 - im zweiten Merkel-Kabinett - wurde die ausgebildete Ärztin von der Leyen Bundesministerin für Arbeit und Soziales. Vier Jahre später, im Dezember 2013, wechselte sie an die Spitze des Verteidigungsministeriums, dessen Führung sie auch nach der komplizierten schwarz-roten Regierungsbildung nach der Bundestagswahl 2017 behielt. Kaum einer ihrer ausschließlich männlichen 17 Vorgänger schaffte es in diesem Amt auf sechs Jahre.
Bis zum Wechsel an die Spitze des Verteidigungsministeriums verlief die bundespolitische Karriere der ambitionierten Politikerin glatt und weithin makellos. Sie verhielt sich meist loyal zu Bundeskanzlerin Angela Merkel, für die sie stets eine verlässliche Stütze war - im Kabinett und auf CDU-Parteitagen. Manche sahen in ihr schon Merkels Nachfolgerin.
Die Macherin
Als Verteidigungsministerin ging von der Leyen zügig die vielen Baustellen bei der Bundeswehr an: Die Truppe litt und leidet an veralteter und defekter Ausrüstung, schlecht geplanten Rüstungsprojekten und an einem gravierenden Mangel an Spezialisten. So setzte sich sie durch kräftigen - auch medialen - Druck einen Anstieg des Verteidigungsetats durch. Und unter dem Schlagwort "Trendwende Personal" stoppte die erste deutsche Verteidigungsministerin die Schrumpfkur bei der Bundeswehr: Erstmals seit der Wiedervereinigung wuchs die Truppe wieder.
Unter anderem schaffte sie die starre Obergrenze von 185.000 Soldaten ab. Von der Leyen machte Verteidigungspolitik erkennbar zu einem Element der deutschen Außenpolitik. Das entsprach auch dem internationalen Kampf gegen die Terrororganisation "Islamischer Staat", in den die Bundeswehr in mehreren Bereichen eingebunden ist.
"Wir kamen aus einer Phase, wo die Bundeswehr lange geschrumpft worden ist", sagte von der Leyen im Mai 2017 zur Lage der Bundeswehr. Und nannte dann zwei aus ihrer Sicht positive Kurswechsel: "Die Sicherheitslage hat sich so verändert, dass ganz viele Aufgaben auf die Bundeswehr zugekommen sind, von Syrien, Irak über Mali über die gesamte Mission im Mittelmeer bis hin zur Flüchtlingshilfe und den Schutz der östlichen Grenze. Und zeitgleich habe ich gemeinsam mit der Bundeswehr sozusagen den Tanker einmal gedreht - nämlich die Trendwende Material, die Trendwenden Personal und der Finanzen."
Fehltritte und Skandale
In den vergangenen Jahren jedoch bekam von der Leyens Ansehen als "Macherin" zahlreiche Kratzer. Schuld daran waren manche Personalentscheidungen, aber auch diverse Skandale. Und auch unter ihr verzögerten sich wichtige Rüstungsprojekte. "Die Zustände im Beschaffungsbereich der Bundeswehr sind keine zwingende Qualifikation für den höchsten exekutiven Job der Europäischen Union", kommentierte der Grünen-Verteidigungsexperte Omid Nouripour die Brüsseler Personalie gegenüber der Deutschen Welle.
Zudem wurden während ihrer Amtszeit als Verteidigungsministerin rechtsextremistische Umtriebe in der Bundeswehr und erniedrigende Praktiken in der Soldatenausbildung bekannt. Deutlich - und deutlicher, als es jeder ihrer Vorgänger getan hätte - distanzierte sich die Ministerin von der Truppe.
Mit ihrer Aussage, die Bundeswehr habe ein "Haltungsproblem", verspielte sie Vertrauen bei den Soldaten. Zuletzt schlingerte sie bei der Frage, ob es noch eine Zukunft des Segelschulschiffs "Gorch Fock" gibt. Und nach und nach wird deutlich, welche Freiheiten eine Ex-Beraterin hatte, die von der Leyen zur Staatssekretärin gemacht hatte und die wiederum diverse teure Berater ins Ministerium holte. Inzwischen befasst sich ein Untersuchungsausschuss des Bundestages mit dieser "Berateraffäre"; von der Leyen müsste wohl im Dezember aussagen.
Brüsseler Pluspunkte
Der Glanz von der Leyens verblasste zusehends. Trotzdem sehen langjährige Beobachter diverse Pluspunkte für die 60-Jährige auf dem Brüsseler Parkett. So arbeitete sie erfolgreich an der Struktur der EU-Verteidigungsunion mit. "Die europäische Armee als langfristiges Ziel und die NATO sind keine Gegensätze, sondern meines Erachtens zwei Seiten einer Medaille, denn es ist wichtig, dass die Europäer innerhalb der NATO eine starke Säule bilden, auch um die Glaubwürdigkeit der NATO aufrechtzuerhalten, aber auch um eine starke europäische Stimme zu haben", betonte sie. Zu den Forderungen von US-Präsident Donald Trump nach einem größeren militärischen Engagement Deutschlands und Europas, sagte sie: "Ich finde, das ist eine faire Forderung."
2016 sorgte sie in einer sehr schwierigen Phase für die rasche Einsetzung der NATO-Mission, die in der Ägäis die griechische und türkische Küstenwache sowie die europäische Grenzschutzagentur Frontex unterstützte und den Kampf gegen Schlepper voranbringen sollte.
Von der Leyen traut sich selbst gewiss jede Aufgabe zu. Als 2010 nach dem plötzlichen Rücktritt von Bundespräsident Horst Köhler die CDU rasch einen Nachfolger benennen musste, war ihr Name auch im Rennen. Nun führt ihr Weg vielleicht in eine ganz andere Richtung.