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Kiezschule? Ja, bitte!

Lydia Heller27. Januar 2014

Viele deutsche Eltern melden ihre Kinder nicht gern an Schulen mit einem hohen Anteil an Zuwandererkindern an. In Berlin wirbt eine Initiative genau dafür. Denn "Brennpunktschulen" sind oft besser als ihr Ruf.

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Kinder einer 'Multi-Kulti-Klasse' (Foto: dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

Wenn die siebenjährige Ella die Namen ihrer Klassenkameraden aufzählt, ist sofort klar, dass sie als deutsches Kind zur Minderheit gehört. "Lenya geht in meine Klasse und Khan, Ali und Malak", erzählt sie. Etwa vier Fünftel ihrer Mitschüler haben ihre Wurzeln in der Türkei und in arabischen Ländern, in Serbien, Bulgarien oder Polen. Rund 410 Kinder besuchen die Karlsgartenschule im Berliner Stadtteil Neukölln. Um die 80 Prozent von ihnen haben einen sogenannten Migrationshintergrund.

Eigentlich müssten die Zahlen anders aussehen, erklärt Schulleiterin Brigitte Unger. Laut Einwohnermeldeliste gebe es jedes Jahr etwa hundert Schulanfänger, die an ihrer Schule angemeldet werden müssten. "Von denen kommen bei uns aber nur 60 bis 70 an, denn die restlichen gehen an andere Schulen. Und es sind in erster Linie deutsche Eltern, die sich für andere Schulen entscheiden.“

Migrantenkinder bleiben unter sich

Silvia Schwarz etwa, deren Sohn 2015 für die Schule angemeldet werden muss, überlegt bereits jetzt, mit ihrer Familie aus dem Viertel wegzuziehen oder einen Umschulungsantrag zu stellen. Die Schule in ihrem Einzugsgebiet kommt für sie nicht infrage, weil dort viele Kinder nicht-deutscher Herkunft unterrichtet werden. "Man hört viel türkisch und arabisch, auch Slang und Schimpfwörter", sagt die Mutter. "Ich lese meinen Kindern jeden Abend Kinderbücher vor, die sprechen wirklich gut für ihr Alter. Und ich möchte nicht, dass das Niveau runtergezogen wird und sie dann mit Kindern zusammensitzen, die erstmal Deutsch lernen müssen.“

Mahlzeit in der Berliner Grundschule Karlsgartenschule (Foto: DW/Lydia Heller)
Gemeinsam kochen und essen: An der Karlsgartenschule lernen die Kinder auch dasBild: DW/L.Heller

In Berlins Innenstadtbezirken ist Studien zufolge inzwischen an jeder fünften Grundschule der Anteil an Kindern mit nicht-deutschen Wurzeln doppelt so hoch wie ihr Anteil in der Wohngegend, die zum Einzugsgebiet dieser Schule gehört. Auch in anderen deutschen Großstädten haben Bildungsforscher ähnliche Entwicklungen von Entmischung und Segregation beobachtet. "Sobald mehrheitlich Zuwanderer in der Schule sind, überlegen sich Eltern zweimal, ob sie ihre Kinder dahin schicken", sagt Simon Morris-Lange vom Forschungsbereich beim Sachverständigenrat Deutscher Stiftungen für Integration und Migration. In der Folge blieben Kinder mit Migrationshintergrund in vielen Schulen immer häufiger unter sich.

Schüler profitieren von Unterschieden

Völlig unbegründet sind die Bedenken gegenüber Schulen in Multikulti-Vierteln nicht: Auch wenn die geographische Herkunft der Eltern nichts über das Leistungsvermögen und den Erfolg ihrer Kinder in der Schule aussagt - die soziale Zusammensetzung von Schulklassen ist laut Morris-Lange sehr wohl relevant. Und in Deutschland ist der Anteil von Zuwanderern hoch, die aus sozial prekären Verhältnissen kommen. Gelingt es nicht, in den Klassenzimmern ein ausgewogenes Verhältnis von Kindern mit verschiedenen kulturellen und sozialen Hintergründen zu schaffen, verkommen Kiezschulen tatsächlich häufig zu den berüchtigten "Reste- oder Brennpunktschulen".

Entscheidend ist für den Bildungsforscher, dass die Schulen ein gutes Lehr- und Lernkonzept entwickeln, das auf die Vielfalt der Schülerschaft individuell eingeht. Dann, so betont Simon Morris-Lange, profitieren alle von der Mischung - sowohl leistungsschwächere als auch leistungsstärkere Schüler. "Studien zeigen deutlich, dass leistungsstarke Schüler in Klassen, in denen auch viele schwächere Kinder sind, keine Leistungseinbußen haben." In manchen Jahrgängen, zum Beispiel beim Übergang auf weiterführende Schulen, zeigten sie sogar bessere Leistungen als Kinder aus leistungshomogenen Klassen.

Eltern verschiedener Herkunft treffen sich an der Berliner Karlsgartenschule (Foto: DW/Lydia Heller)
Elternarbeit wird an der Karlsgartenschule groß geschriebenBild: DW/L. Heller

Lehrer besser auf Umgang mit Vielfalt vorbereiten

Doch die Lehrer müssten auf die Vielfalt in ihren Klassenzimmern besser vorbereitet werden, fordert der Bildungsexperte. Fortschritte sieht er in Bundesländern wie Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Berlin. Dort müssten sich bereits alle Lehramtsstudenten mit dem Thema Sprachförderung beschäftigen, auch die Naturwissenschaftler unter ihnen.

Eltern rät Morris-Lange daher: "Schreckt nicht vor einer Schule mit vielen Zuwandererkindern zurück. Schaut Euch die Schule in Eurer Nachbarschaft einfach richtig an." An der Neuköllner Karlsgartenschule etwa hat Brigitte Unger vor neun Jahren begonnen, jahrgangsübergreifenden Unterricht durchzusetzen. Frontalunterricht gibt es gar nicht mehr, in den Klassen wird in kleinen Gruppen gearbeitet. Sozialpädagogen unterstützen die Lehrer, wenn einzelne Schüler besondere Förderung brauchen. Es gibt Theater-AGs, Musik-, Kunst- und Kochworkshops und ein offenes Eltern-Café, in dem sich Eltern auch während der Schulzeit aufhalten und austauschen können. Wer möchte, kann jederzeit im Unterricht hospitieren.

Eltern können gute Lernumgebung fördern

Susann Worschech, Ellas Mutter, hat das getan. "Ich war sehr begeistert und habe mich hinterher fast ein wenig geschämt, weil ich gemerkt habe, dass auch ich Vorbehalte hatte", gibt sie zu. Seither engagiert sie sich in der Initiative Kiezschule für alle, die nicht nur deutsche, sondern überhaupt bildungsinteressierte Eltern aus der Gegend dazu bewegen will, sich die Schulen vor Ort erst einmal anzuschauen, bevor sie ihr Kind anmelden.

Die Initiative möchte die Eltern davon überzeugen, dass es möglich ist, ihren Kindern dort ein gutes Lernumfeld zu schaffen. Dass sie daran mitwirken können. Und dass für ein gutes Lernumfeld nicht ein hoher Anteil deutscher Kinder in den Schulklassen entscheidend ist - sondern auch die Erfahrung von Vielfalt. "Wenn wir in einem vielfältigen und bunten Kiez leben, soll sich diese Vielfalt auch so in der Schule widerspiegeln", meint Susann Worschech. Deshalb kämpft sie gegen den zunehmenden Trend der sozialen Trennung an deutschen Grundschulen. "Aber wir schicken unsere Kinder nicht aus politischen Gründen an diese Schulen", betont sie, "sondern, weil wir uns dort wohlfühlen“.

Susann Worschech (l.) und Petra Lafrenz (Foto: DW/Lydia Heller)
Susann Worschech (l.) und Petra Lafrenz wollen eine "Kiezschule für alle"Bild: DW/L. Heller