Bestseller von Florian Huber jetzt auf Englisch
4. Juli 2019Über dieses Kapitel der Nachkriegsgeschichte hat man in Deutschland kaum gesprochen: Als die Alliierten 1945 in Deutschland einmarschierten, nahmen sich nicht nur viele Regierungsvertreter des Dritten Reiches das Leben - allen voran Adolf Hitler und Propagandaminister Joseph Goebbels, sondern auch zahlreiche einfache Bürger und ganze Familien.
Der Schriftsteller und Dokumentarfilmer Florian Huber hat das Phänomen der Massenselbstmorde in Deutschland recherchiert und 2014 sein erfolgreiches Buch "Kind, versprich mir, dass du dich erschießt" herausgebracht. Mit dem Untertitel: "Der Untergang der kleinen Leute in Deutschland 1945". Jetzt ist das Werk auch auf Englisch in den Buchhandlungen erhältlich -der Titel: "Promise Me You'll Shoot Yourself: The Downfall of Ordinary Germans, 1945".
Die große Angst vor den Alliierten
Die Erzählung beginnt in der kleinen Stadt in Demmin in Vorpommern. Der Ort hatte damals 15.000 Einwohner, von denen sich nach Schätzungen 700 bis 1000 Menschen umbrachten oder im erweiterten Selbstmord auch ihre Familien mit in den Tod nahmen. Gewöhnliche Leute erschossen sich in den Wäldern, nahmen Gift oder den Strick.
In einem Interview mit der Deutschen Welle erklärte der Schriftsteller Florian Huber 2015, warum gerade Demmin so exemplarisch für ihn war. "Das liegt auch an der geographischen Lage. Es liegt wie eine Halbinsel zwischen drei Flüssen", so Huber. "Nachdem die Brücken gesprengt worden waren, kam niemand mehr weg – auch die Soldaten der Roten Armee nicht, nachdem sie die Stadt am 30. April eingenommen hatten." Tausende von Flüchtlingen aus den Ostgebieten hatten darüber hinaus bereits die Stadt besiedelt. Der Raum wurde eng, die Angst immer größer.
Es sei aber nicht nur die Angst vor den einmarschierenden Soldaten der Siegermächte gewesen, sagt Huber, sondern auch ein Gefühl von Schuld und Verstrickung, das die Menschen in den Tod getrieben habe. Ein Phänomen, das weit über den Osten Deutschlands hinausging. "Statistisch betrachtet ist die Zahl der Selbstmorde in Bayern sehr schnell hochgeschnellt, auch in Städten wie Hamburg. Im gesamten Reich brachten sich Familien um."
Versprich mir, dass du dich erschießt…
Am 20. April 1945, an Hitlers Geburtstag, wurde der Vater von Friederike Grensemann zu einem letzten Dienst der Hitler-Armee gerufen. Die Alliierten waren auf dem Vormarsch. Von seiner Tochter verabschiedete er sich mit den Worten: "Es ist alles aus. Versprich mir, dass du dich erschießt, wenn die Russen kommen." Er erklärte ihr auch genau, wie sie es anstellen müsste. Als "die Russen" dann kamen, entschied sich Friederike Grensemann für das Leben und warf die Waffe in den Müll. Andere Menschen empfanden die Befreiung vom Dritten Reich keineswegs als "Befreiung" - und ihre Angst wurde auch von außen geschürt.
"Die Leute hatten natürlich schon jahrelang in der deutschen Propaganda gehört, was ihnen blüht, wenn der Feind mal deutschen Boden betritt. Das wurde in den gruseligsten Farben ausgemalt", erklärt Huber. "Die 'mongolischen Horden', als die die Russen bezeichnet wurden, schneiden den Kindern die Zungen ab und stechen ihnen die Augen aus und vergewaltigen die Frauen." Schließlich hatten die Flüchtlinge im Ort auch schon einiges erlebt und berichteten von Verbrechen und Vergewaltigungen. "So schaukelte sich die Angst und dann auch die tatsächliche Erfahrung von Gewalt zu einer Verzweiflung hoch, der man nur durch den eigenen Tod zu entrinnen glaubte."
Florian Huber erzählt dieses Kapitel der deutschen Kriegsgeschichte im Wechsel von historischer Reportage mit Einzelschicksalen und einer Art Mentalitätsstudie über die Zukunftsängste der Menschen.
Verschwiegen, verdrängt und vergessen
Lange wurde über diese deutschlandweiten Selbstmorde geschwiegen, wie über so vieles, das die Kriegsgeneration nach 1945 verdrängte und am liebsten vergessen wollte. "Man kann es zum Teil damit erklären, dass es in der DDR verboten war, über solche Themen wie Demmin zu sprechen, da man damit schlechte Dinge über die Rote Armee angedeutet hätte", vermutet Florian Huber. Schließlich war man Verbündeter der Sowjetunion.
Doch auch nach der Wiedervereinigung wurde nicht viel dazu veröffentlicht. "Ich kann nur zu dem Schluss kommen, dass die Selbstmorde nicht dazu passten, wie wir in den vergangen 20 bis 30 Jahren über unsere Vergangenheit nachgedacht haben", meint Huber. "Vieles wurde in das starre Schema der Täter und Opfer, der Helden und Henker gepresst. Diese Selbstmörder belegen das Gegenteil. Sie waren nicht nur Täter, denn es waren alle möglichen Leute. Es waren aber auch keine Opfer, die man mit Menschen, die im Konzentrationslager waren, vergleichen könnte. Es waren Menschen, die sich selbst umgebracht haben unter extremen Umständen."
"Promise Me You'll Shoot Yourself: The Downfall of Ordinary Germans, 1945" von Florian Huber, in der englischen Übersetzung von Imogen Taylor, Verlag Allen Lane, Großbritannien, ist ab dem 4. Juli erhältlich.
Die Deutsche Welle berichtet zurückhaltend über das Thema Suizid, da es Hinweise darauf gibt, dass manche Formen der Berichterstattung zu Nachahmungsreaktionen führen können. Sollten Sie selbst Selbstmordgedanken hegen oder in einer emotionalen Notlage stecken, zögern Sie nicht, Hilfe zu suchen. Wo es Hilfe in Ihrem Land gibt, finden Sie unter der Website https://www.befrienders.org/.