Ich bin wütend und enttäuscht über den Tabu-Bruch von Claas Relotius. Ich habe seine investigativen Auslandsreportagen geliebt und ihm die vielen Journalisten-Preise gegönnt, weil auch ich davon ausgegangen bin, dass sie ehrlich verdient waren.
Für mich ganz persönlich ist die investigative Auslandsreportage die Königsdisziplin im Journalismus. Das, was Relotius der Wahrheit mit seinen gefälschten Auslandsreportagen angetan hat, ist journalistischer Hochverrat. So ein Verrat schadet der Demokratie insgesamt.
Glaubwürdigkeit ist die einzige Währung
In einer Welt, in der globale Unordnung herrscht und in der die Sehnsucht nach einfachen Antworten Überhand gewinnt, dürfen wir Journalisten keine Seelenverkäufer sein. Unsere einzige Währung ist die Glaubwürdigkeit. Der Dialog mit unserem Publikum funktioniert nicht ohne Wahrheit, und Demokratien brauchen den Dialog, um zu funktionieren.
In unserer unordentlichen Welt waren die Reportagen von Claas Relotius für mich wie Leuchttürme in der Dunkelheit. Sie gaben stimmlosen Menschen eine Stimme. Sie trieben mich als Kollegin und Leserin an, hinzusehen und Machtstrukturen zu hinterfragen.
Claas Relotius machte den Guantanamo-Häftling Mohammed Bwasir und die Waisenkinder Alin und Ahmed aus dem syrischen Aleppo zu Recht zu Protagonisten seiner Texte. Warum nur legte er ihnen Zitate in den Mund? Warum nur schubste er sie in fiktive Situationen, die nie stattgefunden haben? Warum nur entschied er sich, in dutzenden Fällen Märchen zu erzählen? Die Wahrheit ist doch dramatisch genug.
Eindeutige ethische Standards
Wer in Deutschland Journalist wird, verpflichtet sich, ethisch zu arbeiten. Unser Pressekodex lässt keinen Spielraum. "Die Achtung vor der Wahrheit, die Wahrung der Menschenwürde und die wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit sind oberste Gebote der Presse", steht da schwarz auf weiß. Claas Relotius hat sich über jede Ethik hinweggesetzt. Der Überehrgeizige hat vor allem die Menschenwürde seiner Protagonisten mit Füßen getreten.
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass der digitale Hochleistungsjournalismus zum Betrug einlädt. Das System ist anfällig. Es hätte auch die Deutsche Welle oder jedes andere Medienhaus treffen können. Der globale Kampf um Exklusivität, Schnelligkeit und Deutungshoheit macht süchtig. "Der Spiegel" hat sich gerne mit den Auslandsreportagen seines Star-Reporters geschmückt. Ein Relotius-Erfolg war immer auch ein "Spiegel"-Erfolg. Es ist kein Zufall, dass die Abteilung Faktencheck des Nachrichtenmagazins, die in Deutschland einmalig ist, ausgerechnet beim Fall Relotius versagt hat.
Geschäftsführungen und Chefredaktionen müssen sich immer wieder neu vergegenwärtigen, dass guter Journalismus Zeit und Raum braucht. Eine Auslandsreportage leuchtet auch in der Farbe grau. Der ewige Superlativ zerstört Wahrhaftigkeit.
Journalisten tragen Verantwortung
Und wir Journalisten müssen begreifen, dass wir sehr große Verantwortung tragen. Wir sind die Brücke des Dialogs in einer unordentlichen Welt. Wir sind das Korrektiv des Populismus. Wenn wir versagen, wenn wir lügen, dann schaden wir der Gesellschaft. Für die Demokratie steht viel auf dem Spiel.
An unser Publikum richte ich die Bitte, uns nicht in Sippenhaft für die Verfehlungen einzelner Kollegen zu nehmen. Claas Relotius ist ein gefährlicher Einzelfall. Es hat vor ihm auch schon andere Betrüger gegeben, die dem Vorwurf der Lügenpresse Nahrung gegeben haben. Aber DIE Lügenpresse gibt es nicht. Die meisten von uns machen aus voller Überzeugung einen ehrlichen Job, um Kindern wie Alin und Ahmed aus Aleppo eine Stimme zu geben.