Der Fall Relotius: Lügen und Geschichten
20. Dezember 2018Der "Spiegel" gilt als Flaggschiff im deutschen Journalismus. "Spiegel"-Gründer Rudolf Augstein kämpfte in der Nachkriegszeit für die Pressefreiheit, saß dafür während der Spiegel-Affäre 1962 sogar in Untersuchungshaft. Sein Magazin hatte die Kampfkraft der Bundeswehr in Zweifel gezogen, wurde deshalb des Landesverrats beschuldigt. Spätestens seit dieser Affäre ist das Hamburger Magazin eine deutsche Institution.
Wenn jetzt erneut von einer Spiegel-Affäre gesprochen wird, dann geht es jedoch um den "Spiegel" selbst. Claas Relotius, 33 Jahre alt, preisgekrönter Reporter, soll in zahlreichen Reportagen für das Magazin Personen, Orte, ganze Geschichten erfunden haben. Das hat das Magazin aufgedeckt und öffentlich gemacht.
"Jedes Wort und jede Zahl"
"Das hat mich wirklich verblüfft", sagt der Medienjournalist Stefan Niggemeier, der selbst schon für den "Spiegel" gearbeitet hat. Ein solcher Skandal bei einem Konkurrenzblatt wie dem "Focus" oder der Boulevardzeitung "Bild" hätte Niggemeier weniger überrascht, sagt er im DW-Gespräch: "Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass es einem Kollegen beim 'Spiegel' gelingt, an der Abteilung Dokumentation vorbei komplett erfundene Charaktere in seinen Geschichten auftreten zu lassen."
60 Mitarbeiter der Abteilung Dokumentation prüfen beim "Spiegel" alle Texte, die Autoren des Hauses verfassen. Jedes Wort und jede Zahl soll dabei überprüft werden. "Ich habe das erlebt", so Niggemeier, "wenn man den Anruf bekommt und die mit einem Wort für Wort den Text durchgehen und fragen, woher diese Zahl kommt und wer hat das gesagt? Das ist nicht immer angenehm". Vor dieser Detailprüfung wird jeder Text beim "Spiegel" von mindestens einem Ressortleiter und einem Chefredakteur, von Mitarbeitern in Lektorat und Rechtsabteilung gelesen. Solch großen Aufwand betreibt kein anderes deutsches Medienhaus.
"99,99 Prozent sauber"
Doch im Fall Relotius hat dieses Sicherungssystem versagt. "Gerade bei den Geschichten, die dieser Mensch gemacht hat, kann man schwierig hinter die Kulissen schauen", sagt Frank Überall, Vorsitzender des Deutschen Journalistenverbandes (DJV). "Man kann nicht in Syrien eine befragte junge Frau einfach anrufen und nachforschen, ob sie mit dem "Spiegel" gesprochen hat", sagt Überall im DW-Gespräch: "Man muss sich darauf verlassen, dass alle eine Berufsehre im Leib haben und gegen die nicht verstoßen."
Überall spricht deshalb von einem Einzelfall: "Es ist eine Person und 99,99 Prozent der Kolleginnen und Kollegen arbeiten immer sauber." Trotzdem müsse man aufpassen, "dass das kein Flächenbrand wird" - schließlich habe Relotius auch für andere Medien geschrieben, darunter die "Welt" oder "NZZ am Sonntag".
Die perfekte Geschichte
Medienjournalist Niggemeier sieht jedoch ein grundlegenderes Problem: "Es ist ja kein Zufall, dass die Geschichten von Claas Relotius mit Preisen überhäuft wurden - eben, weil sie scheinbar perfekt große, komplexe Dinge, die in der Welt passieren, verdichten und zusammenfassen in kleinen Begegnungen. Das muss nicht immer faul sein, aber es gibt ein Problem damit, wie sehr das von der Branche gefeiert wird."
Das könnte dazu geführt haben, dass Claas Relotius immer wieder die "perfekte" Geschichte schreiben wollte, auch wenn die Realität das nicht hergab. DW-Reporterin Sandra Petersmann kennt diese Situation. Sie reist für die DW in Länder wie Afghanistan oder den Irak. Zuletzt hat sie im Süden der Philippinen über islamistischen Terror berichtet.
Grautöne, selbst erlebt
"Ich hätte mich auch nicht gut gefühlt, auf die Philippinen zu reisen und mit nichts zurückzukommen", sagt Petersmann. "Man hat ja eine klare Erzählidee im Kopf, die man vor Ort realisieren will. Aber wenn sich die Situation vor Ort komplett anders darstellt, als man sich das vorher gedacht hat, dann muss man es eben so darstellen, wie es ist, in allen Grautönen." Das sei dann vielleicht nicht die Geschichte des Jahrhunderts, aber eine wahrhaftige, erlebte Geschichte.
Bislang habe sie noch niemand unter Druck gesetzt, eine Geschichte reißerischer zu erzählen, sagt Petersmann. Ob sich Claas Relotius diesen Druck selbst gemacht hat oder ob ihn Kollegen und Chefs gedrängt haben, auch das wird beim "Spiegel" geklärt werden. Eine Kommission aus eigenen Mitarbeitern und externen Experten werde allen Hinweisen auf Manipulation nachgehen, teilt der "Spiegel" mit.
"Lügenpresse" klärt auf
Denjenigen, die einen Generalverdacht gegen Medien hegen, dürfte der Fall Relotius Wasser auf die Mühlen spülen. Dabei zeige der Umgang des "Spiegel" mit dieser Affäre, dass die "Lügenpresse"-Vorwürfe falsch seien, meint der Medienjournalist Niggemeier, "weil eine Redaktion sich daran macht, das in aller Öffentlichkeit aufzubereiten". Gehe der "Spiegel" damit gut um, dann sei nicht davon auszugehen, dass das Vertrauen in die Marke "Spiegel" oder gar den Journalismus insgesamt zerstört wird.