Lange Kolonnen von Panzerfahrzeugen, die Richtung Süden rollen, und die Straßen der Grenzstadt Shenzhen verstopfen - seit Anfang der Woche verbreiten sich im chinesischen Internet Videos, die suggerieren, dass China die bewaffnete Volkspolizei, eine mit schweren Waffen ausgestattete paramilitärische Eingreiftruppe, an der Grenze zu Hongkong zusammenzieht. Es ist der jüngste Baustein in einer Drohkulisse, die Peking seit mehreren Wochen aufbaut. Die Botschaft, die Peking aussendet, lautet: Wir sind bereit, die Proteste in Hongkong mit Gewalt niederzuschlagen.
Drohungen verhallen
Angst ist das Geschäft der Diktatur. Die Mächtigen haben Angst vor dem Volk und sorgen im Gegenzug dafür, dass das Volk Angst vor ihnen hat. China hat dieses System der Abschreckung perfektioniert. Der Staat hat unzählige Möglichkeiten, seine Bürgern immer wieder an seine Bereitschaft zur Gewalt zu erinnern - vom Anruf der Staatssicherheit beim Arbeitgeber, über Ausreisesperren bis zu willkürlichen Verhaftungen und Folter.
In Hongkong erlebt chinesische Führungsriege gerade, dass ihre Drohungen nicht funktionieren. Zehn Wochen lang gehen die Hongkonger nun schon auf die Straße, doch weder Polizeigewalt noch Massenverhaftungen oder die Androhung drakonischer Strafen - bis zu zehn Jahre Haft drohen in Hongkong denjenigen, die sich an einer "Ausschreitung" (riot) beteiligt haben - haben die Demonstranten bisher dazu gebracht, nach Hause zu gehen. Und auch die immer unverhohlenere Drohung mit einem Einmarsch des Militärs schreckt die überwiegend jungen Demonstranten nicht ab. Man darf sich Chinas Führungsriege derzeit wohl einigermaßen fassungslos vorstellen.
Denn die Drohungen aus Peking sind nicht leer. Die kommunistische Führung hat vor 30 Jahren auf dem Platz des Himmlischen Friedens unter Beweis gestellt, dass sie bereit ist, auf das eigene Volk zu schießen, wenn sie ihre Macht bedroht sieht. Skrupel braucht man Peking nicht zu unterstellen.
Das Gefühl, schon verloren zu haben
Das wissen auch die Demonstranten. Fragt man sie, ob sie überhaupt eine Chance sehen, dass ihr Protest Erfolg hat, dann bekommt man oft ein unverblümtes "Nein" zur Antwort. In den vergangenen Jahren hat Peking immer unverhohlener versucht, seinen Einfluss auf die Stadt auszuweiten. Unliebsame Oppositionspolitiker wurden aus dem Parlament ausgeschlossen, fehlender Respekt vor der Staatsflagge mit Gefängnisstrafen belegt, Wortführer der Demokratiebewegung von 2014 verschwanden im Gefängnis.
Viele Demonstranten treibt nicht die Hoffnung, diesen Trend umkehren zu können, auf die Straße, sondern das Gefühl, vielleicht zum letzten Mal die Chance zu haben, ihre Meinung frei äußern zu können. Während die Regierungschefin Hongkongs Demonstranten warnt, dass sie die Stadt "in den Abgrund stürzen", haben diese das Gefühl, sich längst im freien Fall zu befinden. Es ist das verbreitete Gefühl ohnehin schon verloren zu haben, das Pekings Abschreckung so wirkungslos verpuffen lässt.
"Die Westler werden das vergessen"
Dabei hat Hongkong nach wie vor viel zu verlieren. Ein Einmarsch wäre das Ende der Stadt als internationaler Finanzplatz. Die Freiheiten, die Hongkong bisher genießt wären wohl für immer dahin. Und auch Peking käme kaum glimpflich aus der Sache heraus. Hongkong ist das wichtigste Tor zur internationalen Finanzwelt für chinesische Unternehmen. Die Bilder eines Blutbads in den Straßen würden die Glaubwürdigkeit der aufstrebenden Weltmacht auf Jahre beschädigen, mögliche Sanktionen würden Chinas Wirtschaft in einer schwierigen Phase treffen. Und im Handelsstreit mit den USA wäre China massiv geschwächt.
Deng Xiaoping, der Mann hinter dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens, soll damalige Bedenken über die internationalen Reaktionen mit der Bemerkung weggewischt haben: "Die Westler werden das vergessen." Wenn die chinesische Führung wirklich beschließt, das alles in Kauf zu nehmen, wird sie auch diesmal niemand daran hindern können. Was die westlichen Demokratien jetzt aber tun können, ist Peking klar zu machen, dass der Preis der Gewalt tatsächlich hoch wäre.