Das Spiel mit der Verantwortung
9. März 2020Natürlich ginge es auch anders. Gedenkveranstaltungen, Messen, Gottesdienste, Kongresse, Konzerte, Tennis-Turniere, Radrennen, Marathonläufe und viele weitere Großveranstaltungen wurden aufgrund des neuartigen Coronavirus in den vergangenen Wochen abgesagt. So sperrig Sars-CoV-2 betitelt ist, so allgegenwärtig ist das Virus inzwischen. Die Fallzahlen steigen in vielen Ländern rasant, auch in Deutschland. Doch ausgerechnet die größten Massenveranstaltungen hierzulande liefen bislang weiter, als sei nichts geschehen: Die Bundesliga ignoriert seit Wochen die Gefahr, die vom Coronavirus ausgeht.
Liveblog: Wie das Coronavirus die Sportwelt verändert
363.043 Zuschauer kamen am vergangenen Wochenende zu den neun Spielen der obersten deutschen Fußball-Liga, standen dicht gedrängt auf Tribünen, vor Bratwurstständen oder in Straßenbahnen - und kehrten anschließend zu ihren Familien heim, gingen wieder zur Arbeit, in die Uni oder in die Schule. Einfacher kann man es dem Virus nicht machen. Alles, was bislang in Sachen Coronavirus unternommen wurde, waren Lippenbekenntnisse ("wir nehmen die Situation ernst") oder Blendwerk (keine Selfies von Spielern mit Fans). Wirksame Maßnahmen zur Eindämmung des Virus scheuen alle Beteiligten. Während in Frankreich oder Italien Spiele vor Ausschluss der Öffentlichkeit ausgetragen werden, pilgern am Montagabend in Stuttgart, am Dienstagabend in Leipzig und vielleicht auch am Mittwochabend in Mönchengladbach wieder Zehntausende in die Arenen. Nach allem, was wir über das Virus inzwischen wissen, ist das absolut unverantwortlich.
Virologen warnen - die Bundesliga hört weg
Die Coronakrise ist nun wirklich keine Gefahr, die vom einen auf den anderen Tag nach Deutschland kam. Seit dem Jahreswechsel wird über die Ausbreitung in China berichtet, vor sechs Wochen gab es den ersten Fall in Deutschland, inzwischen sind es mehr als 1000 Patienten - Tendenz schnell steigend. Schon vor knapp zwei Wochen forderte der Virologe Jonas Schmidt-Chanasit im DW-Interview die Absage von Bundesliga-Spielen - die DFL ignorierte die warnenden Stimmen. Stattdessen folgte immer der Verweis auf Behörden und Politik, die das schon regeln würden.
Nur: Die spielen das gleiche Spiel. "Ob sie ohne Publikum spielen oder ob sie gar nicht spielen, das muss schon der Verein entscheiden, nicht ich", sagte Karl-Josef Laumann (CDU) am Sonntagabend in der ARD-Talkshow "Anne Will". Laumann ist Gesundheitsminister von Nordrhein-Westfalen, dem am stärksten betroffenen Bundesland. Und so schieben sich alle gegenseitig die Verantwortung zu. "Ich finde es konsequent inkonsequent, was wir gerade tun", sagt Horst Heldt, Sport-Geschäftsführer beim 1. FC Köln, und trifft den Nagel auf den Kopf. Doch auch er erwartet von einer anderen Instanz eine Entscheidung, seinen Verein - der sich mitten im Verbreitungsgebiet des Virus befindet - sieht er nicht in der Pflicht.
Business must go on
Es ist ein zynisches Spiel mit der Gesundheit der Menschen, das hier nicht zuletzt auch aufgrund von wirtschaftlichen Überlegungen gespielt wird. Denn Spiele ohne Publikum kosten viel Geld. Fast alle Vereine haben sich in ihren Allgemeinen Geschäftsbedingungen verpflichtet, ihren Fans in solchen Fällen die Eintrittspreise zurückerstatten. Dazu entgehen den Klubs weitere Einnahmen aus Merchandising oder Gastronomie. Insgesamt belaufen sich die so genannten Spielerträge auf 520 Millionen Euro pro Saison (Spielzeit 2018/2019). Wenn der Chef des Weltfußballs, Gianni Infantino, nun sagt, dass die Gesundheit "wichtiger als jedes Fußballspiel" sei, darf man getrost zweifeln, wie aufrichtig solche Aussagen gemeint sind.
Selbst wenn der deutsche Fußball sich nun nach langem Zögern doch dazu durchringt, Spiele vorerst ohne Publikum auszutragen, kommt die Entscheidung für eine wirksame Eindämmung des Virus viel zu spät. Und sie ist übrigens auch "konsequent inkonsequent", denn auch die Profis sowie ihre Trainer und Betreuer können sich untereinander anstecken. Zur Sicherheit hat die DFL noch einmal am Wochenende klar gestellt: Es stehe "außer Frage, dass die Saison wie vorgesehen bis Mitte Mai zu Ende gespielt werden muss." Business must go on.