Die für Erdogan nützliche Krise
Recep Tayyip Erdogan ist ein Meister der Politik. Er verpasst keine Chance, eine handfeste Krise für seine Agenda zu nutzen. Im Zweifelsfall provoziert er sie eben selbst. Jeder krisenhafte Ausnahmefall - sei es der massive Korruptionsskandal, die Gezi-Proteste, der wiederaufflammende Kurdenkonflikt oder der gescheiterte Putschversuch - hat ihm geholfen, seine Macht weiter zu festigen.
Indem er nun die Verwerfungen mit den Europäern forciert, setzt er bei den Türken im Ausland und zu Hause kurz vor dem Verfassungsreferendum am 16. April auf die nationalistischen und religiösen Gefühle. Die schwülstig, aggressive Rhetorik gegen die Niederlande und ein ähnliches Muster bei der Auseinandersetzung mit Deutschland soll die Türkei als Opfer eines feindseligen Europas dastehen lassen.
Immer wieder hat die Türkei in den vergangenen Jahren ihre internen Probleme ausgelagert: Eine Vielzahl nicht-türkischer Institutionen, Gruppen und Staaten mussten dafür herhalten. Sie wurden beschuldigt, sich gegen die Türkei verschworen zu haben. Ein effektives Mittel, das mit der türkischen Psyche spielt. "Ein Türke hat keine Freunde außer einen Türken", sagt ein Sprichwort.
Ein enges Rennen
Für Erdogan wird das Referendum kein Selbstläufer. Umfragen zeigen, dass selbst Unterstützer der Regierung nicht automatisch für die konstitutionelle Reform sind. Regierungsnahe Umfragen gehen von einen "Ja" zum Präsidialsystem aus, oppositionelle tendieren Richtung "Nein". Die nationalistische Stimmung im Land könnte am Ende das Ergebnis beeinflussen. Der Streit mit Europa spielt Erdogan deshalb in die Karten.
Die ultranationalistische, rechtsextreme MHP-Partei hat Erdogans AKP dabei unterstützt, die Verfassungsänderung im Januar durch das Parlament zu bringen. Doch die Wahl war innerhalb der MHP sehr umstritten und hat sie gespalten. Einige prominente regimekritische Abgeordnete wurden aus der Partei ausgeschlossen. Deshalb ist eines der ganz großen Fragezeichen, wie sich die Basis der MHP entscheiden wird.
Angesichts der zahlreichen internen und externen Bedrohungen argumentiert die Regierung, dass das Präsidialsystem die Türkei künftig "stärker, vereinter und unabhängiger" machen wird. Ironischerweise haben gerade Erdogans Machtambitionen dazu geführt, dass das Land jüngst instabiler und schwächer geworden ist.
Drahtseilakt für Europa
Jeder, der gegen das Referendum ist, wird als "Terrorist" oder "Putsch-Unterstützer" gebrandmarkt. Das geht so weit, dass auch Staaten beschuldigt werden, die Kurden und damit das "Nein"-Lager zu unterstützen.
Europa macht sich Sorgen über die Richtung der Türkei. Wenn das Referendum angenommen wird, könnte das den verbliebenen Rest von Demokratie im Land zunichte machen, die Polarisierung im Land verstärken und die Ein-Mann-Herrschaft festigen.
Auch wenn es den Europäern Probleme bereitet, wenn türkische Politiker in ihren Ländern Wahlkampf betreiben, sollten sie die verbale Auseinandersetzung mit Erdogan Wochen vor dem Referendum vermeiden. Die Niederländer haben korrekt reagiert, als sie den türkischen Ministern wenige Tage vor den Wahlen im eigenen Land verboten haben, dort aufzutreten.
Doch die prinzipielle Blockade jeder noch so kleinen Veranstaltung oder von Reden von türkischen Ministern in diplomatischen Vertretungen könnte mehr Schaden als Nutzen stiften. Denn damit sammelt Erdogan Propaganda-Punkte bei den Nationalisten. Und nicht zuletzt könnte das auch den Boden bereiten für einen persönlichen Auftritt von Erdogan in Europa. Dann könnte er sich bei seinen Anhängern als der starke Staatsmann präsentieren, der seine Nation bis aufs Letzte verteidigt.
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