Meine Eltern, die beide nach Mekka gepilgert sind, haben mich nach islamischen Werten erzogen. Ja, ich bin ein gläubiger Muslim, elhamdülillah! (Gott sei Dank!) Gleichzeitig spielten in meiner Erziehung aber auch die Werte von Mustafa Kemal Atatürk eine wesentliche Rolle. Für meine Familie und mich ist daher der Laizismus, die Trennung von Staat und Religion, den Atatürk der Türkei gebracht hat, eine große Errungenschaft und ein großes Gut.
Als frommer Muslim kann ich die Entscheidung des Obersten Verwaltungsgerichts der Türkei in keinster Weise nachvollziehen. Ich frage mich, welches Recht die Juristen dazu bewogen hat, die Umwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee zu gestatten. Die Hagia Sophia ist ein architektonisches Meisterwerk, das die Kulturen und Religion auf der Welt vereint. Nun wird dem ein Ende gesetzt. Mit Rechtsstaatlichkeit hat dies wieder einmal nichts zu tun.
Machterhalt um jeden Preis
Die Antwort, warum die obersten Verwaltungsrichter so geurteilt haben (oder auch urteilen mussten), ist erneut eine politische. Die Wirtschaft in der Türkei krankt nicht nur, sie liegt fast am Boden. Nahezu jeder Sektor im Land ist von der Corona-Pandemie betroffen. Die Arbeitslosigkeit schnellt in die Höhe. Erdogan gerät immer mehr unter Druck. Was kann ein islamisch-konservativer Staatspräsident tun, damit seine schwindende Anhängerschaft wieder zu ihm zurückkehrt? Wie kann er seine Wähler wieder mobilisieren?
Eine neue militärische Offensive, um an das Nationalbewusstsein zu appellieren? Geht nicht, kostet zu viel Geld! Und vor allem stellt sich die Frage: Gegen wen soll die Armee vorgehen? Vorzeitige Wahlen? Zu gefährlich, denn die Demoskopen sagen derzeit keinen Erfolg für Erdogan voraus.
Was aber wäre, wenn man einfach die Errungenschaften Atatürks rückgängig machte? Das ist die Lösung! Die frommen Muslime genau dort packen, wo sie am impulsivsten reagieren: An das religiöse Gewissen appellieren! Denn für diese Bevölkerungsgruppe ist die Hagia Sophia seit der Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen schon immer eine Moschee gewesen. Als Atatürk 1935 die Hagia Sophia, die fast 400 Jahre als islamisches Gotteshaus genutzt wurde, zu einem Museum machte, war das auch eine Botschaft: Die moderne Türkei ist ein säkulares Land! Doch das ist Erdogan egal. Für ihn zählt nur die Macht. Um jeden Preis.
Wozu eine Moschee mehr in Istanbul?
Seit zum Nachmittagsgebet am heutigen Freitag der Ruf des Muezzins vom Minarett der Hagia Sophia zu hören war und dann noch Menschenmengen vor dem Bauwerk in Tränen ausbrachen, Erdogan huldigen und IHM für diese Entscheidung danken, fehlen mir ehrlich gesagt die Worte. Dies alles ist mehr als nur eine Provokation. Auch wenn jetzt vor allem die überzeugten Befürworter der Moschee auf den Straßen das Urteil der Richter feiern, gibt es auch gerade in Istanbul viele Menschen, die sich die Frage stellen: Wozu eine Moschee mehr? Diese Frage ist durchaus berechtigt, denn in Istanbul, der Stadt mit über 15 Millionen Einwohnern, in der jede Religion vertreten ist, gibt es bereits 3.200 Moscheen. Und ganz ehrlich: nicht jeder dieser 15 Millionen Menschen betet fünfmal am Tag in einem der Gotteshäuser. Und wieviele Kirchen gibt es noch in der säkularen Türkei? Viel weniger!
Die Gräben in der Türkei werden tiefer
Lange habe ich gehofft, dass Erdogan irgendwann einmal wieder die Bevölkerung in der Türkei einen kann. Dass er zu einem Staatsoberhaupt mit den Werten wird, die er zu Beginn seiner nationalen politischen Karriere als Ministerpräsident vertreten hat. Doch diese Hoffnung wird leider nur in meinem Herzen fortleben. Denn die Realität sieht anders aus: Wo immer es auch geht, spaltet dieser Präsident. Die Gräben werden immer tiefer und tiefer.
Patriarch Bartholomäus von Konstantinopel, das Oberhaupt aller Orthodoxen Kirchen, hatte sich strikt gegen die Umwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee ausgesprochen. Die Hagia sei eines der bedeutendsten Baudenkmäler der menschlichen Zivilisation und gehöre nicht bloß ihren unmittelbaren Eigentümern, sondern "der ganzen Menschheit", so der Patriarch. Aber über solche Worte und Gedanken setzt sich Erdogan hinweg. Für ihn zählt nur eins: Macht und Machterhalt. Ich kann nur hoffen, dass die Quittung, die Hagia Sophia wieder in ein islamisches Gotteshaus umzuwandeln, nicht die muslimischen Minderheiten außerhalb der Türkei bezahlen müssen.