Erdogans "Politik der Provokationen"
10. Juli 2020Das Oberste Verwaltungsgericht der Türkei hat entschieden, dass die Hagia Sophia in Istanbul künftig als Moschee genutzt werden kann. Damit annullierte das Gericht die Entscheidung von Staatsgründer Kemal Atatürk aus dem Jahre 1934, das Gotteshaus in ein Museum umzuwandeln. Die Hagia Sophia war bis zum Fall Konstantinopels 1453 über 900 Jahre lang die Hauptkirche des Byzantischen Reiches. Nach der Eroberung durch die Osmanen wurde sie als Moschee genutzt.
Konstantin Nikolakopoulos, Professor für orthodoxe Theologie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, erklärt im Gespräch mit der DW, warum für den türkischen Regierungschef Recep Tayyip Erdogan dieses Urteil so wichtig war.
Deutsche Welle: Wie bewerten Sie die Entscheidung des obersten Verwaltungsgerichts der Türkei, den Weg zur Nutzung der Hagia Sophia als Moschee freizumachen?
Konstantin Nikolopoulos: Die orthodoxen Christen sind enttäuscht. Natürlich haben wir ein solches Urteil erwartet. Im Grunde ging es aber hierbei nicht um eine religiöse Frage. Die Entscheidung reiht sich ein in die Politik der Provokationen, die der türkische Präsident Erdogan in den vergangenen Jahren verfolgt.
Ihm war bewusst, dass eine solche Umwandlung der Hagia Sophia alle Christen treffen würde - insbesondere die Orthodoxen. Letztendlich richtet sie sich aber gegen die westliche Welt insgesamt. Es handelt sich um eine Machdemonstration. Erdogan will nicht nur die islamische Welt dominieren. Er will auch beweisen, dass die Türkei eine Großmacht ist und vor niemandem Angst hat. Natürlich gehören zu den Motiven auch Nationalismus und fundamentalistischer Islamismus.
Mit anderen Worten - es geht um Symbolpolitik.
Sicher. Es geht nicht um eine bloße Auseinandersetzung mit dem Ökumenischen Patriarchat von Konstantinopel. Seine bloße Existenz ist seit Jahrzehnten für Erdogan ein Ärgernis. Das Patriarchat musste deswegen viel durchmachen in den vergangenen Jahren.
Wie reagiert das Ökumenische Patriarchat?
Auch wenn es vom türkischen Staat nicht als das anerkannt wird, was es ist, nämlich der geistliche Führer der Orthodoxie, erträgt es die Situation mit Würde. Patriarch Bartholomäus insistiert auf der geschichtlichen Kontinuität des Patriarchats und auf den Verbleib seines Sitzes in Istanbul - trotz der vielen Stimmen, die immer wieder zu etwas anderem raten.
Ich erinnere auch daran, dass nationalistische politische Kräfte das Ökumenische Patriarchat als "Schlangennest" bezeichnen, dass es Attentatsversuche auf den Ökumenischen Patriarchen gab, Bombenanschläge.
Haben Sie den Eindruck, dass aus dem Ausland ausreichend Druck auf die Türkei ausgeübt wurde, um die Umwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee zu verhindern?
Meiner Meinung nach nicht. So gab es zum Beispiel Protest aus Frankreich und auch aus Russland, aber er kam zu spät und er war zu leise. Und Deutschland hat es vermieden eine eindeutige Position zu beziehen. Die UNESCO hat erst am Donnerstag eine Erklärung veröffentlicht, in der sie Erdogan auffordert - ich würde eher sagen "bat" - von diesem Schritt abzusehen. Dabei wussten spätestens seit dem 2. Juli alle Bescheid. An dem Tag hatte das Oberste Verwaltungsgericht bekannt gegeben, dass der türkische Präsident mit einer einfachen Unterschrift die Hagia Sophia zu einer Moschee umwandeln kann.
Können Sie sich vorstellen, dass die Hagia Sophia als Moschee genutzt wird?
Ja, das kann ich mir vorstellen, auch wenn es mir schwer fällt. Schon in den vergangenen Jahren fanden dort im kleineren Rahmen muslimische Gottesdienste statt, so auch am 29. Mai, am Jahrestag des Falls von Konstantinopel 1453.
Diese Praxis wird jetzt fortgeführt werden. Ich könnte mir aber auch vorstellen, dass die UNESCO und eine Reihe von Ländern darauf dringen werden, dass die Hagia Sophia an bestimmten Tagen in der Woche auch als Museum fungiert.
Konstantin Nikolakopoulos ist Professor für Biblische Theologie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Er ist Herausgeber der Zeitschrift "Orthodoxes Forum".
Das Interview führte Panagiotis Kouparanis.