Die europäische Sommerpause ist vorüber. Mit dem Dreier-Gipfel auf der italienischen Insel Ventotene startet eine neue entscheidende Politik-Saison mit vielen Unsicherheiten. Der Berg von Problemen, den die Gäste François Hollande und Angela Merkel mit Matteo Renzi auf der symbolträchtigen Insel bei Neapel besprechen wollen, ist so hoch wie der Vesuv und explosiv wie ein Vulkan.
Die Chefs der drei größten Staaten der Euro-Zone werden über die immer noch zu hohe Arbeitslosigkeit, schleppende Wirtschaftsreformen im Süden und rigide Schuldenpolitik im Norden streiten. Der französische Staatspräsident, die deutsche Kanzlerin und der italienische Premier wollen einen Weg finden, wie sich der Brexit organisieren lässt. Man braucht eine Verhandlungsposition gegenüber den Briten, von denen man aber den Sommer über den Eindruck gewinnen konnte, sie wollten den von den Wählern knapp beschlossenen Austritt aus der EU so lange wie möglich verschleppen. Sind die drei Großen bereit, die Personenfreizügigkeit im EU-Binnenmarkt zu beschränken, um die Wirtschaftsbeziehungen zu Großbritannien zu retten?
Der französische Präsident ist für eine harte Haltung, um Europa-Skeptiker im eigenen Land im Zaum zu halten. Er befindet sich quasi schon im Wahlkampf um sein Amt, das im Mai 2017 neu vergeben wird. Seine Hauptsorge ist der Kampf gegen islamistischen Terror. Die deutsche Kanzlerin könnte eine Art Vermittlerin werden. Sie will diese Krise der EU wie immer durch Ausgleich und Kompromisse beilegen oder vielleicht auch aussitzen. Auch sie muss sich 2017 der Wiederwahl stellen und hat zuhause mit wachsender Kritik an ihrer Person und Europa zu kämpfen.
Renzi will lockere Haushaltspolitik
Der italienische Ministerpräsident verfolgt mit seinem Mini-Gipfel im August eine ganz eigene Agenda. Er will "bella figura" machen, schöne Bilder vom führungsstarken Matteo produzieren. Er steht mehr oder weniger im Wahlkampf, muss im November ein kritisches Verfassungsreferendum gewinnen. Er muss den skeptischen Italienern beweisen, dass die EU auch nach seiner Pfeife tanzt. Er will schnell mehr fiskalischen Spielraum. Eine "deutsche" EU will Renzi verhindern. Das hat er schon lange vor dem Brexit angekündigt. Nach dem Brexit ist das umso wichtiger für ihn.
Rund ein Drittel der Wählerinnen und Wähler in Italien haben die Euro-Gegner von der "Bewegung fünf Sterne" gewählt. Renzi will einen Kontrapunkt setzen und hat deshalb auf die ehemalige Gefängnisinsel Ventotene geladen. Die "Erklärung von Ventotene", 1941 von Sozialisten und Kommunisten in faschistischer Haft verfasst, gilt den Italienern als der Urknall der europäischen Einigung. Auf diesem Fundament will Matteo Renzi ein neues Europa der gemeinsamen Werte, eine runderneuerte EU schaffen. Wie weit ihm seine Gäste folgen wollen und können, wird man sehen.
Sackgasse Flüchtlingspakt
Alle 27 EU-Staats- und Regierungschefs von einer neuen Richtung für die EU zu überzeugen, wird noch viel schwerer. Das Dreier-Treffen dient der Vorbereitung des für Mitte September angesetzten Sondergipfels in der slowakischen Hauptstadt Bratislava. Die östlichen Mitgliedsstaaten wollen weniger Kompetenzen für die EU und eine Renationalisierung. Heftige Konflikte sind programmiert. Das gilt besonders auch für die immer noch ungelöste Flüchtlingskrise. Der brüchige Deal mit der von der EU wegdriftenden Türkei zur Abschreckung, Rücknahme und Umsiedlung von Flüchtlingen könnte bald platzen. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan gilt nach dem zurückgeschlagenen Putschversuch als schwer berechenbar. Sollte die EU ihm die Visafreiheit für seine Bürger im Oktober nicht zugestehen, bräuchte die EU eine alternative Flüchtlingspolitik.
Darauf ist sie im Moment schlecht vorbereitet. Die Fluchtrouten zu schließen und gleichzeitig Griechenland sowie Italien mit den Flüchtlingen allein zu lassen, ist auf Dauer keine Lösung. Eine legale Zuwanderung und eine vernünftige Umverteilung der Flüchtlinge und Asylbewerber innerhalb der EU scheinen unmöglich. Der Bundeskanzlerin muss etwas einfallen, denn ihre Glaubwürdigkeit, ihre Durchsetzungsfähigkeit, ihr Name sind untrennbar mit der Flüchtlingsfrage verbunden. Löst Merkel dieses Problem nicht, wird sie ihre Führungsrolle in der EU und vielleicht auch ihr Amt in Deutschland verlieren.
Neben den inneren Problemen der EU zwingen auch die außenpolitischen Krisen in Europas Nachbarschaft zu neuen Ansätzen und zum Handeln. Der Syrienkrieg, eine der Fluchtursachen, tobt schlimmer denn je. Die Spannungen in der Ukraine und damit mit Russland nehmen zu. Hat jemand neue Ideen?
Polen an Bord halten
Der Mini-Gipfel könnte auch für neuen Zwist sorgen. Denn ginge es wirklich darum, grobe Linien für den Sondergipfel und die vielen Problemstränge zu entwickeln, hätte Matteo Renzi wohl auch das wichtigste neue Mitgliedsland, nämlich Polen, nach Ventotene einladen müssen. Die nationalkonservative Regierung in Warschau riskiert wegen des Streits um das Verfassungsgericht einen veritablen Bruch mit der EU. Der muss unbedingt verhindert werden, sonst verschärft sich die Sinnkrise der EU um ein Vielfaches.
Oder ist Ventotene doch der Start für ein Kerneuropa der Gründerstaaten, die 1957 die Römischen Verträge unterschrieben haben? Die Union, wie wir sie bisher kannten, steht auf dem Spiel. Bis zum März 2017 zum, 60. Jahrestag der Verträge, soll das neue Gewand der EU entworfen sein. Die Zeit wird angesichts der Fülle der Krisen knapp.
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