Empathie lässt sich nicht anordnen
10. Januar 2018Antisemitismus hat viele hässliche Gesichter: Hakenkreuze an Hauswänden und auf jüdischen Friedhöfen, brennende Israel-Fahnen auf Demonstrationen, Überfälle auf Juden. Deutschland, so scheint es, wird von einer neuen Welle des Hasses auf alles Jüdische erfasst. Dabei ist das darunter liegende Phänomen altbekannt: Antisemitische Einstellungen sind gesellschaftlich seit jeher weit verbreitet. Sie waren auch hierzulande trotz aller im deutschen Namen begangenen Menschheitsverbrechen während der Nazi-Zeit nie ausgerottet.
Der Unterschied zu früher: Die Ressentiments werden zunehmend rücksichts- und hemmungslos ausgelebt. Entsprechend groß ist das Entsetzen. Wie konnte das passieren? Schließlich setzt sich dieses Land seit Jahrzehnten vorbildlich mit seiner eigenen Schuld auseinander und wird dafür zu Recht von vielen Ländern als Vorbild gepriesen. Trotzdem muss einiges schiefgelaufen sein. Ein immer wieder zu hörender Befund lautet, in der Schule werde zu wenig über die Nazi-Zeit vermittelt. Ähnliche Klagen betreffen - nebenbei gesagt - den Umgang mit der kommunistischen Diktatur.
Produktiver Streit ist besser als staatlich inszenierte Harmonie
Wenn das eine wie das andere stimmen sollte, läge die Lösung des Problems doch aber auf der Hand: mehr und vor allem bessere Bildung! Die beginnt aber nicht mit verpflichtenden Besuchen von Gedenkstätten ehemaliger Konzentrationslager, wie es manche Politiker und Funktionäre jetzt ins Gespräch gebracht haben. Die Idee ist gut gemeint, kann aber bei vielen für Verdruss sorgen oder schlimmstenfalls sogar auf Ablehnung stoßen. Wohin staatlich verordnetes Gedenken führen kann, lehrte der von oben verordnete Antifaschismus in der DDR. Auch die angebliche deutsch-sowjetische Freundschaft erstarrte in Ritualen.
Aber auch eine freie Gesellschaft tut sich schwer mit dem vermeintlich richtigen Gedenken. Sie tut es aber freiwillig und ergebnisoffen. Erinnert sei an die lange, mitunter verbittert geführte Debatte um den Bau des zentralen Holocaust-Denkmals neben dem Brandenburger Tor in Berlin. Oder die vom Schriftsteller Martin Walser 1998 ausgelösten Proteste, als er von der "Moralkeule Auschwitz" sprach. Das Gute an diesen und anderen Auseinandersetzungen war, dass Deutschlands Nachdenken über die eigene, unvergleichbare Schuld immer wieder neue Impulse erhalten hat. Sie sind spätestens dann nötig, wenn Gedenken und Nachdenken zur Routine werden.
Antisemitismus ist leider zeitlos
Bestünde nun beim Thema Antisemitismus kein Zusammenhang zwischen Vergangenheit und Gegenwart, gäbe es auch keine Diskussion über verpflichtende Besuche von KZ-Gedenkstätten. Wer Buchenwald, Dachau, Sachsenhausen, Auschwitz oder jeden anderen Ort des Schreckens besucht, sollte das aber aus freien Stücken tun. Vor allem muss man - ob Deutscher oder Zuwanderer - intellektuell und emotional darauf vorbereitet sein. Und daran scheint trotz aller Bemühungen noch immer ein großer Mangel zu bestehen.
Ihn spürbar zu lindern, wäre die erste und wichtigste Aufgabe. Alles Weitere kommt dann schon von allein. Der Anblick eines in den Boden eingelassenen Stolpersteins aus Messing mit dem Namen eines ermordeten Juden löst bei manchem vielleicht mehr aus als der Besuch eines ehemaligen Konzentrationslagers. Empathie lässt sich nämlich nicht anordnen - zum Glück.
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