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EU-Gipfel der Risiken

Christian F. Trippe, Brüssel27. Juni 2014

Gipfeltreffen der Europäischen Union verzetteln sich oft im Klein-Klein politischer Formelkompromisse. Doch diesmal haben die Staats- und Regierungschefs Neuland betreten. Ein Wagnis, meint Christian F. Trippe.

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EU-Gipfel in Brüssel: Gruppenbild der Staats- und Regierungschefs (Foto: REUTERS/Philippe Wojazer)
Bild: Reuters

Selbst dramatische Veränderungen kommen in der EU meist schleichend daher. Die Bestellung des neuen EU-Kommissionspräsidenten dürfte bald als schlagendes Beispiel für jene Brüsseler Entscheidungen gelten, deren volle Tragweite sich oft erst nach Monaten zeigt.

Gerade hat der EU-Gipfel mit Jean-Claude Juncker einen Politiker auf den Schild gehoben, der sich zuvor als sogenannter Spitzenkandidat europaweit im Wahlkampf präsentiert hatte. Das gab es vorher noch nie. Bislang hatten die Staats- und Regierungschefs einen Kommissionspräsidenten ausgeguckt und ausgekungelt - und ihn anschließend dem Parlament vorgeschlagen. Dieses Verfahren hat sich nun umgekehrt. Juncker ist der Mann des Parlaments. Er wird ein Kommissionspräsident von Gnaden der Abgeordneten sein.

Folglich dürfte die EU-Kommission in Zukunft kaum mehr die zur strikter Neutralität verpflichtete 'Hüterin der Verträge' sein. Die EU-Kommission ist konzipiert als politische Auftragsverwaltung. Sie nahm ihre Weisungen bisher vom Rat, also von den Regierungen der Nationalstaaten, entgegen. Mit Junckers Kür hat sich Europas Machtachse verschoben - zugunsten des Parlaments.

Christian Trippe, Leiter des DW-Studios Brüssel (Foto: DW)
Christian Trippe, Leiter des DW-Studios Brüssel

Ein britisches Exempel?

Dies mag als Parlamentarisierung der EU begrüßt werden. Wenn alles gut geht, könnte es sogar dazu führen, dass die Union insgesamt transparenter und damit demokratischer wird. Doch dieses Kalkül muss nicht aufgehen. Sicher ist heute nur, dass zuvor die Trümmer eines veritablen Kollateralschadens wegzuräumen sind. Denn nach Lage der Dinge entfremdet die Personalie Juncker die Briten noch weiter von der EU. Baldiger Ausstieg nicht ausgeschlossen.

"Wir haben die europäische Verfassungswirklichkeit neu geschrieben", freuen sich in diesen Tagen Europa-Abgeordnete quer durch die Parteien. Es ist bezeichnend, dass die gleichen Abgeordneten seit längerem schon zu erkennen geben, dass sie gegen einen Austritt Großbritanniens aus der EU nichts einzuwenden hätten. "Sollen sie doch…."

Mit Junckers Nominierung ist zum ersten Mal in der Geschichte der EU eine wichtige Entscheidung gegen den ausdrücklichen Widerstand eines 'großen' Mitgliedslandes gefällt worden. Soll das Schule machen? Oder wurde an den Briten 'nur' ein Exempel statuiert, weil die Regierung Cameron seit langem schon durch Brüssel irrlichtert und die Partner nervt?

Gewissheit des Friedens

Neuland beschreiten die Europäer auch in der Außenpolitik, und auch hier sind die Risiken groß. Denn die Freihandels- und Partnerschaftsabkommen mit der Ukraine, Georgien und der Republik Moldau bürden der EU eine große Verantwortung auf. Mit diesen Abkommen verhärtet sich die politische Fronstellung gegenüber Russland - auch wenn das in Brüssel alle bestreiten. Es genügt ja, dass die Führung in Moskau dies so sieht und den diplomatischen Fehdehandschuh aufnimmt. Sollte Russland die drei Länder wegen der Abkommen wirtschaftlich drangsalieren, so steht die EU gegenüber den Regierungen in Kiew, Tiflis und Chisinau nunmehr auch finanziell in der Pflicht.

Begonnen hatte der Gipfel im west-flandrischen Ypern, mit einer Feier, die an den Ausbruch des ersten Weltkriegs vor 100 Jahren erinnerte. Die Staats- und Regierungschefs verneigten sich vor den Toten, sie legten Kränze nieder und drapierten ihre Nationalflaggen auf einer Gedenkbank - sichtlich getragen von der Gewissheit, dass ein Krieg zwischen den europäischen Partnern heute nicht mehr möglich ist.

Die Last der Geschichte hatte - so paradox es klingen mag - somit auch etwas Befreiendes. Vielleicht nehmen sie deshalb die geopolitische Nagelprobe an, auf die Russlands neo-imperiales Gehabe sie stellt. Vielleicht sind die EU-Granden deshalb das Wagnis eingegangen, das Gefüge ihres Clubs neu auszutarieren. Mit allen Risiken und unkalkulierbaren Nebenwirkungen.