Kosovo: Wahlen zur Unzeit
11. Februar 2021Kosovo, der jüngste Staat in Europa, könnte bald Italien den Rang ablaufen, was Regierungswechsel innerhalb einer kurzen Zeit angeht. Seit der Unabhängigkeit (2008) ist keine Regierung bis zum Ende der Legislaturperiode im Amt geblieben. Im Corona-Jahr 2020 wurden gleich zwei Kabinette gestürzt, zudem musste der Staatspräsident abtreten.
Durch die Krise rund um die Pandemie, immense innere politische und wirtschaftliche Schwierigkeiten sowie die ungelöste Auseinandersetzung mit dem Nachbarland Serbien, zu dem das zu 90 Prozent von Albanern bewohnte Kosovo bis zum Krieg 1999 faktisch und bis zur Unabhängigkeit vor zwölf Jahren immerhin noch nominell gehörte, liegt das Land politisch und ökonomisch lahm und steuert auf eine Verfassungskrise zu.
Im November vergangenen Jahres war das 2016 gewählte Staatsoberhaupt, Hashim Thaçi von der Demokratischen Partei Kosovos (PDK), nach einer Anklage des Kosovo-Sondergerichts für Kriegsverbrechen in Den Haag wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zurückgetreten. Seither übt Parlamentspräsidentin Vjosa Osmani in Doppelfunktion auch das Amt des Staatsoberhaupts aus. Laut Verfassung muss spätestens nach sechs Monaten ein neuer Präsident gewählt werden.
Als wären das nicht genug Probleme, war Ende Dezember 2020 auch die Wahl der derzeitigen Regierung vom Verfassungsgericht für ungültig erklärt worden. Nun aber müssen die Bürger Kosovos am kommenden Sonntag (14.02.2021) nach nur 15 Monaten wieder an die Urnen. Und das dann gewählte Parlament muss anschließend mit einer 2/3 Mehrheit innerhalb der gesetzten Frist einen neuen Präsidenten wählen.
Absehbarer Sieger mit absehbaren Schwierigkeiten
Zwar sind sich Beobachter einig, dass das Wahlbündnis um die linksorientierte Partei "Lëvizja Vetëvendosje" (Bewegung Selbstbestimmung, LVV) bei den Wahlen stärkste Kraft werden wird. Trotzdem dürften sowohl die Regierungsbildung als auch die fristgerechte Wahl des neuen Staatsoberhaupts äußerst schwierig werden, weil sich die meisten anderen politischen Kräfte in Kosovo einer Koalition mit der LVV verweigern.
Fest steht immerhin, dass Übergangspräsidentin Osmani gemeinsam mit dem LVV-Chef und langjährigen Radikal-Oppositionellen Albin Kurti auf der Liste der LVV ins Rennen geht. Die beiden beanspruchen die Ämter des Ministerpräsidenten und der Präsidentin. Aber ob das verfahrenstechnisch und verfassungsrechtlich funktioniert, wird in Kosovo nicht erst seit Bekanntgabe des Wahltermins heftig diskutiert.
Bekannte Spitzenpolitiker treten nicht an
Sicher ist auch, dass bei diesen Wahlen erstmals viele Spitzenpolitiker fehlen werden, die aus der Zeit des Befreiungskampfes der Kosovo-Albaner gegen Serbien bekannt sind: Ein Großteil von ihnen sitzt zusammen mit Ex-Präsident Thaçi auf der Anklagebank in Den Haag.
Aber auch der wichtigste Oppositionspolitiker und wahrscheinliche Wahlsieger Kurti hat ein Problem: Laut einem Urteil des Verfassungsgerichts darf er drei Jahre kein politisches Mandat innehaben. Er wurde rechtskräftig dafür verurteilt, dass er 2015 im Parlament aus Protest gegen die Politik der damals herrschenden Parteien eine Tränengasgranate gezündet hat.
Kampf um den 2. Platz
Um Platz 2 bei den Wahlen kämpfen die älteste albanische und derzeit regierende Partei des Landes, die "Demokratische Liga des Kosovo" (Lidhja Demokratike e Kosovës, LDK) und Thaçis "Partia Demokratike e Kosovës" (Demokratische Partei des Kosovo, PDK), die nun von Ex-Außenminister und Ex-Vize-Regierungschef Enver Hoxhaj geführt wird. Keine dieser Parteien würde sich auf eine Koalition mit der LVV einlassen. Aber auch zwischen LDK und PDK sind die Gräben tief. Das macht jede Koalitionsbildung schwierig.
Das Kosovo-Parlament hat 120 Sitze. Die Verfassung des Vielvölkerstaats sieht eine "positive Diskriminierung" vor, wonach 20 Parlamentsmandate automatisch den nationalen Minderheiten vorbehalten sind, die ca. 10 Prozent der Bevölkerung stellen. Zehn dieser Sitze gehen an die Kosovo-Serben, weitere zehn an Roma, Bosniaken, Aschkali, Ägypter und Türken. Auch zwei Ministerposten sind für die Minderheiten reserviert. Ohne ihre Kooperation kann in Kosovo also keine Regierung gebildet werden.
Die größte Herausforderung
Angesichts der Corona-Pandemie kommen die Wahlen zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt: Zeitweise waren die Infektions- und Todes-Zahlen in Kosovo dramatisch hoch. Seit Monaten gilt ein strenger Lockdown. Dennoch finden Wahlkundgebungen statt, oft ohne dabei die Regelung zu Abstand und Schutzmasken zu beachten.
Zudem ist die Lage der Wirtschaft in Kosovo, dem "Armenhaus Europas", seit Jahren desolat. Die Arbeitslosigkeit liegt bei etwa 40 Prozent. Und die zur Verbesserung dieser Situation unumgängliche Aussöhnung mit Serbien stockt: Keine der großen Parteien in Kosovo hat sich den Dialog mit dem Nachbarland im Wahlkampf auf die Fahnen geschrieben, denn jedes Zugeständnis an den alten Erzfeind würde Stimmenverluste mit sich bringen.
Gleichzeitig ist klar, dass die größte Herausforderung der künftigen Regierung der Dialog mit Serbien sein wird. Bisher wurde die Unabhängigkeit Kosovos von über 100 Ländern anerkannt, darunter die USA sowie 22 EU-Länder. Aber die EU-Mitglieder Griechenland, Spanien, Slowakei, Rumänien und Zypern, das traditionell Serbien-freundliche Russland, China und viele andere Staaten weltweit lehnen eine Anerkennung von Europas jüngstem Staat ab, bis ein Kompromiss mit dem Nachbarland gefunden ist.