Geisterstadt am Golan
16. Dezember 2008"Wohin möchten Sie fahren? Nach Kuneitra am Golan?" Der hoch gewachsene, adrett gekleidete Taxifahrer, der zuvor noch vollmundig die schönsten Ausflugsziele für Tagestouren rund um Damaskus angepriesen hat, wirkt plötzlich nachdenklich. Jedes Mal, wenn er den Namen der Stadt seiner Eltern und Großeltern hört, der einstigen "Blume des Golans", wie sie lange Zeit auch genannt wurde, beschleicht ihn dasselbe Gefühl des Unbehagens. Dann werden Erinnerungen an Flucht und Vertreibung bei dem 53-jährigen Damaszener Taxifahrer wach - und das in vielerlei Hinsicht.
Ahmed kennt Kuneitra von Erzählungen aus seiner frühen Kindheit. Als die israelische Armee am Ende des Sechstagekrieges im Juni 1967 die Kleinstadt im äußersten Südosten Syriens ohne nennenswerten Widerstand eroberte, flüchtete seine Familie nach Damaskus. Ahmed ist tscherkessischer Herkunft. Seine Großeltern stammten ursprünglich aus dem Nordwesten des Kaukasus.
Die Tscherkessen vom Golan
Genau wie Ahmeds Vater und Mutter ereilte zuvor auch die Großeltern ein ganz ähnliches Schicksal: In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden sie damals - wie viele andere Tscherkessen - von den Russen zur Immigration ins Osmanische Reich gezwungen. Tausende Flüchtlinge kamen damals ums Leben, erlitten Schiffbruch auf dem Schwarzen Meer oder verhungerten auf der Durchreise nach Syrien.
Eine neue Heimat fanden sie vor allem am Golan. Vor Ausbruch des Sechstagekriegs lebten viele Tscherkessen in Kuneitra und zwölf weiteren Dörfern auf dem Golan, die heute in dem von Israel besetzten Teil der Golanhöhen liegen.
"Heute sind es etwa 75.000 Tscherkessen auf ganz Syrien verteilt", erzählt Ahmed, der sein gelb gestrichenes Taxi iranischer Bauart zügig und sicher auf die große südliche Ausfallstraße von Damaskus lenkt, "aber nicht alle sind geblieben. Nach dem Sechstagekrieg gab es eine zweite Auswanderungswelle. Viele wurden dann in den USA, aber auch in Holland und Deutschland aufgenommen." Doch nach ihrer Flucht aus Kuneitra beschloss Ahmeds Familie, in Damaskus zu bleiben.
Kampfzone Kuneitra
Die Fahrt ins rund 70 Kilometer von Damaskus entfernte Kuneitra führt zunächst entlang malerischer Olivenhaine und Obstplantagen im Schatten des westlich gelegenen majestätischen Hermongebirges. Weiter südlich angekommen, im Dorf Sasa, deutet Ahmad auf den Ortseingang. "Bis hierher kamen die israelischen Truppen im Oktoberkrieg 1973, bevor sie gestoppt werden konnten", sagt er.
Gleich zweimal, 1967 und 1973, konnte die israelische Armee die strategisch wichtigen Golanhöhen besetzen. Dabei hatte man zu Beginn des Oktoberkrieges schon fast die Kontrolle über das Gebiet verloren. Schlussendlich aber konnten die israelischen Truppen in einer Gegenoffensive die Golanhöhen von den Syrern zurückerobern. Die Israelis überrannten schließlich Kuneitra und rückten bis Sasa vor - nur 40 Kilometer von der syrischen Hauptstadt Damaskus entfernt.
Spur der Verwüstung
Die beiden Kriege haben ihre Spuren der Verwüstung in der einst blühenden Kleinstadt am Golan hinterlassen: Kuneitra gleicht einem Trümmermeer. Die heute menschenleere Geisterstadt liegt seit 1974 in der UN-kontrollierten Pufferzone zwischen Syrien und Israel.
Nachdem Ahmads Taxi den Checkpoint der Vereinten Nationen, der "United Nation Disengagement Observer Force" (kurz: UNDOF), passiert hat, steigt am syrischen Kontrollposten ein Sicherheitsbeamter hinzu, der uns auf der Fahrt durch die Trümmerlandschaft von Kuneitra begleitet.
Syriens größtes Freilichtmuseum des Krieges
Am Stadtrand eröffnet sich dem Betrachter ein Anblick des Grauens: zerstörte Häuser, so weit das Auge reicht. Flach liegen die Betondächer auf den Fundamenten - ganz so, als seien die Häuser förmlich implodiert. Die von Ruinen gesäumte Straße ins ehemalige Stadtzentrum führt an dem mit Einschusslöchern übersäten Golan-Krankenhaus vorbei - Mahnmal und Symbol gegen die Zerstörung des syrischen Erzfeinds. Den Israelis wird vorgeworfen, die Stadt nach ihrem Abzug 1974 komplett dem Erdboden gleichgemacht zu haben.
Seit der Rückgabe der Stadt an die Syrer wurde die Geisterstadt aus politischen Gründen von der Führung in Damaskus nie wieder aufgebaut. Kuneitra ist daher wohl Syriens größtes Freilichtmuseum des Krieges - ein Symbol für den "Kalten Krieg", der seit nunmehr über drei Jahrzehnte anhält und Familien auf beiden Teilen des Golans bis heute trennt.
Menschenleere Straßen
Vorbei an der menschenleeren ehemaligen Einkaufsstraße und einer zerbombten Kirche macht der Wagen am Stadtrand vor einem syrischen Schlagbaum halt, das "Bravo Gate". Von weitem erkennt man den israelischen Checkpoint, auch "Alpha Gate" genannt. Ein Nadelöhr für das UNDOF-Personal in den israelischen Teil des Golan und der einzige Grenzübergang zwischen Israel und Syrien in der UN-Pufferzone.
Der syrische Begleiter bedeutet uns, nun umzudrehen. Kaum haben wir ihn wenig später an seinem Kontrollposten abgesetzt, drückt Ahmed, der Fahrer, energisch aufs Gaspedal. Mit einem Ruck schießt das Taxi vorwärts. "Ein Reflex", sagt er entschuldigend und atmet tief durch bevor er hinzufügt: "Damit werde ich die Erinnerungen an diesen Ort schneller los!"