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Den Leerstand nutzen

Silke Bartlick29. Dezember 2013

Riga schrumpft. Jährlich verlassen Tausende die Stadt. Wohnungen stehen leer, Läden, ganze Fabriken. In die Lücke stoßen junge Kreative und entwickeln an ungewöhnlichen Orten bemerkenswerte Programme.

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Bild: DW/S. Bartlick

Er holt mich von der Straßenbahn ab. Schiebt die Mütze zurück, winkt, lacht, zieht mich mit sich über die Fahrbahn, hinein in eine trübe Dunkelheit. An hohen Backsteingebäuden geht es vorbei, durch ausgefahrene Wege, um große Pfützen herum. Vereinzelt schwächeln Peitschenlampen, werfen dünnes gelbliches Licht auf altes Gemäuer. "Hier kann man sich leicht verlaufen", sagt Kaspars Lielgalvis. Auf dem weitläufigen Gelände etwas außerhalb des Rigaer Zentrums stehen mehr als 50 Gebäude, an den meisten nagt der Zahn der Zeit. Sie stehen seit Jahren leer. Früher einmal haben hier bis zu 20.000 Menschen gearbeitet. Sie haben Kommunikationsgeräte gefertigt, Radioempfänger und Telefongeräte. Aber nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ging es auch mit der VEF bergab, dem einstmals größten Fabrikationsbetrieb in der Lettischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Die Produktion sank dramatisch, 1999 erfolgte die Privatisierung und Zerschlagung des Konzerns.

Dauerhafte Zwischennutzung

"Wir sind vor sieben, acht Jahren eingezogen", erzählt Kaspars. "Weil wir Platz für Workshops und Studios gesucht haben. Und für unsere Ateliers". Etwa 15 Künstler waren sie damals, Besetzer, die schließlich angefangen haben, Tage der offenen Tür und Ausstellungen zu organisieren. "Nach zwei Jahren bekamen wir dann ein Angebot von einem der Besitzer. Er hat uns gefragt, ob wir eins seiner Gebäude nutzen möchten, um dort ein Kulturzentrum aufzubauen". Sie erhielten einen Vertrag für drei Jahre. Danach wollte der Eigentümer die Gebäude abreißen und Neubauten errichten lassen, mit hochwertigen Wohnungen. Die Finanzkrise hat ihm 2008 einen Strich durch die Rechnung gemacht. "Für uns war das wirklich gut", grinst Kaspars. "Und jetzt ist der Eigentümer froh, dass wir da sind". Denn die Aktivitäten der verschiedenen Künstler, die immer noch in einem der ehemaligen Fabrikgebäude arbeiten, strahlen auf das ganze Areal ab.

Riga Kulturhauptstadt 2014
Eingangsbereich des Kulturzentrums auf dem Gelände der ehemaligen VEFBild: DW/S. Bartlick

Kaspars öffnet die Eingangstür. Gekalktes Mauerwerk, abgestellte Fahrräder, an der Decke ein Kronleuchter. Und geschäftige junge Menschen. Plötzlich ein Kommen und Gehen. "Wie war die Präsentation?"," Probt ihr gleich?", "Wann geht es oben los?" - Kaspers geht voran, die Treppe hoch, in einen langen schummrigen Gang, öffnet Türen zu Ateliers, dem Probenraum einer Band, klopft bei einer jungen Amerikanern an, die hier ein paar Wochen lebt. Und öffnet eine andere Tür, sagt, hier wohne er. In einem Provisorium mit Möbeln vom Flohmarkt und mit einem Ofen, von dem sich ein meterlanges Rohr kühn zur hohen Decke streckt.

Ein Anfang

Kaspars Lielgalvis ist 40 Jahre alt. Er hat mit Textilkunst angefangen, hat Graphikdesign gemacht, Performances und Fotos. Er sei, sagt er, einer von den Glücklichen, die von dem leben können, was sie wirklich gerne machen. Aber Kaspars ist auch ein äußerst anspruchsloser Mensch. Die meisten Künstler in Lettland, verrät er, hätten noch irgendwelche Nebenjobs, um durchzukommen. Der Kunstmarkt im Land sei sehr klein, die Szene in Riga isoliert und nicht gut organisiert. Es gäbe hier zwar mit großer Sicherheit hunderte von Künstlern, aber nur wenige Galerien und keine Kunstmesse. Auch deshalb ist das Zentrum in dem Fabrikgebäude so wichtig. Es ist ein Anfang, Treffpunkt und Ort des Austausches, und soll einmal zu einer Plattform für interdisziplinäre Kunstprojekte werden.

Probe in einem der Räume auf dem VEF-Gelände.
Probe in einem der Räume auf dem VEF-Gelände.Bild: DW/S. Bartlick

Kaspars spricht über Berlin. Vor einem guten Jahrzehnt habe es dort viel Leerstand gegeben, dann seien Kreative aus der ganzen Welt gekommen. Und nun vibriere die Stadt. Das könnte doch auch in Riga passieren, das derzeit schrumpft. Bis zu 20.000 Menschen gehen jedes Jahr weg, sagt Kaspars. Vor allem nach Westeuropa. Seit 2008 sei das so, seit der Finanzkrise, in deren Folge Kredite platzten wie Seifenblasen und viele von heute auf morgen ihren Job verloren haben. Deshalb stehen nicht nur ganze Fabriken leer, sondern auch Wohnungen und Läden. Die Bewegung "Free Riga 2014" hat vor wenigen Monaten die Aktion "Occupy me" organisiert, um den Leerstand in der Stadt deutlich zu machen. Und um Kreativen gerade im Kulturhauptstadtjahr die Möglichkeit zu geben, aktuell nicht genutzte Räume zu bespielen. Jeder in Riga kann sich die "Occupy-Aufkleber" holen, leer stehende Gebäude mit ihnen markieren und sie auch im Internet in einem Stadtplan kennzeichnen. Das ist in anderthalb Monaten über 300 Mal geschehen.

Ein Haus von hunderten

"Wir hoffen, dass die Regierung irgendwie reagiert", sagt Ieva Kanepe, Gründerin und eine der Managerinnen des zentrumsnahen Kanepes Culture Centre. Die einzelnen könnten ja nur auf den Leerstand aufmerksam machen. Das ist ein bisschen untertrieben. Was Ieva auch weiß. Denn sie selbst hat zusammen mit einem Künstler und einem Volkswirt vorgemacht, was möglich ist. Die drei haben vor zwei Jahren eine alte Villa gemietet - zu ungewöhnlichen Konditionen: Innerhalb von zehn Jahren müssen sie das Haus renoviert haben. Jetzt, wo gerade das Nötigste getan ist, entfaltet es seinen morbiden Charme womöglich besonders gut. Nichts, was in den schönen Räumen der ehemaligen Musikschule steht, ist neu. Alles Fundstücke, Spenden und Geschenke.

Im Kanapes Culture Centre
Im Kanapes Culture CentreBild: DW/S. Bartlick

2014, wenn Riga Kulturhauptstadt Europas ist, werden im Kanepes Culture Centre jeweils für vier Wochen Köche aus verschiedenen europäischen Ländern am Herd stehen. Im Haus soll es dazu ein maßgeschneidertes Kulturprogramm aus Portugal, Italien oder woher auch immer geben. Sie hätten den Eindruck gehabt, sagt Ieva, dass es in Riga nicht viele gute Orte gibt, an denen man seine Freizeit verbringen kann. Die leer stehende Musikschule sei dann für Leute wie sie die Chance gewesen, etwas Neues anzufangen. Für Leute, die nicht dem Mainstream hinterherlaufen, die kreativ und ein bisschen alternativ sind.

Im Erdgeschoss, rund um die Bar, wird gelesen, geredet, gelacht, gegessen und leidenschaftlich getanzt. Eine Treppe führt am kleinen Kino vorbei zu einem Ausstellungsraum. Eindringliche schwarz-weiß-Fotos hängen hier, ein junger Mann verliert sich am Klavier." Was wir gemacht haben", sagt Ieva Kanape, "ist nicht viel. Es ist nur ein Haus. Eins von hunderten". Aber dieses eine Haus hat die Atmosphäre des ganzen Viertels verändert. Und ihm etwas Unbeschwertes, Leichtes gegeben.