Land unter - Deutschland vergisst die Provinz
21. September 2018Vielleicht war es die Aktion mit den Pflastersteinen. Der Moment, in dem es bei den Menschen in Altena "Klick" gemacht hat. Der Augenblick, in dem sie begriffen haben, dass ihre Stadt weiter schrumpfen wird, wenn sie nicht selbst mit anpacken. Oder wie es Bürgermeister Andreas Hollstein ausdrückt: "Wir haben damals gesehen, wie stark eine Tugend sein kann, die in Deutschland scheinbar verschütt gegangen ist: dass Bürger sich aktiv für ihr Gemeinwesen einsetzen."
Einige Einzelhändler in nordrhein-westfälischen Altena hatten sich 2001 über die Pflasterung in der Innenstadt aufgeregt, die an vielen Stellen aufgerissen war. Und waren an ihren Bürgermeister herangetreten, die Fußgängerzone zu renovieren. Nur: Altena hatte kein Geld. "Ich habe ihnen gesagt, ich kann mich im Land für eine entsprechende Förderung einsetzen. Und dann treffen wir uns 2010, 2011 wieder. Oder wir müssen es anders machen. Nämlich selbst."
Dann passierte etwas, womit Hollstein so gar nicht gerechnet hatte. "Die Einzelhändler sagten zu meiner völligen Überraschung: Ja, das machen wir." Tage später packten alle mit an. Die Einzelhändler besserten zusammen mit dem Bürgermeister und anderen Angestellten des Rathauses in mühsamer Kleinarbeit die Straße aus, jeden Tag kamen Freiwillige dazu. "Wieder andere haben Brote geschmiert, und jemand aus der Gastronomie sagte: Ich muss leider an der Theke stehen, aber wenn ihr fertig seid, kommt ihr rein, die Runde geht auf mich!" erinnert sich der CDU-Politiker.
Warum der Mietgipfel falsche Prioritäten setzt
Andreas Hollstein ist seit fast 20 Jahren Bürgermeister von Altena. Einer Stadt, die vor 50 Jahren noch doppelt so groß war. Die von einer Mittel- zu einer Kleinstadt geschrumpft ist – weil Firmen wie Nokia, bei der 3.000 Menschen beschäftigt waren, abgewandert sind. In der die jungen Menschen verschwinden, weil sie für sich dort keine Zukunft mehr sehen, und jetzt schon jeder Dritte über 60 Jahre alt ist. Und wo es im Gegensatz zum 40 Kilometer nördlich entfernten Dortmund mittlerweile Wohnraum en masse gibt.
Altena und die 580.000-Einwohner-Metropole Dortmund stehen somit symbolisch für all das, was in Deutschland so gerne Stadt-Land-Gefälle genannt wird. Und was die große Politik auch noch zementiert. "Beim Mietgipfel wird es nur um bezahlbaren Wohnraum in den Großstädten gehen. Und nicht darum, dass es diesen Wohnraum auf dem Land gibt, es dafür aber oft an Infrastruktur mangelt", befürchtet Hollstein. Zur Erinnerung: zwei von drei Deutschen leben in Orten, die weniger als 100.000 Einwohner haben. In Kleinstädten wie Altena zum Beispiel.
Wie sich der Bürgermeister in Altena zunächst unbeliebt macht
Größer zu werden, ist in Sachen Stadtentwicklung eine Herausforderung. Kleiner zu werden aber mindestens genauso. Vor allem, wenn kein Geld da ist. Hollstein, der in Altena geboren ist, fängt bei sich selbst an: verkauft den Dienstwagen seines Vorgängers, einen Mercedes, und fährt stattdessen mit einem VW Polo zur Arbeit. Setzt einen Nothaushalt durch. Verkleinert die Verwaltung von 180 auf 120 Stellen. Schließt eines der zwei Freibäder, nicht ausgelastete Kindergärten und zwei Grundschulen. Und reißt Wohneinheiten und Kirchen ab. Teilweise erntet er dabei wütende Proteste.
"Ich habe den Menschen immer gesagt, dass ich Politik anders machen will. Ehrlich, auch im Negativen" erinnert sich der 55-jährige. "Das heißt, offen kommunizieren, was Sache ist und mit den Bürgern gemeinsam erarbeiten, wie man ein Problem löst". Die Menschen mitnehmen, auf Augenhöhe. Den Wandel moderieren. In Altena sind es keine hohlen Phrasen, es funktioniert. "Als ich nach fünf Jahren zum ersten Mal als Bürgermeister wiedergewählt wurde, war ich sehr erfreut. Aber verwundert hat es mich schon", sagt der gelernte Jurist schmunzelnd.
Wie ein Ehrenamt depressive Verstimmung vertreiben kann
Menschen mitnehmen ist das eine, aber für einen Strukturwandel braucht es auch immer welche, die voranschreiten. Menschen wie Annette Wesemann und Dorothee Isenbeck zum Beispiel. Wesemann ist bei der Stadt und zuständig für das bürgerschaftliche Engagement, Isenbeck gelernte Sozialpädagogin. Beide haben großen Anteil daran, dass das Generationenbüro "Stellwerk" seit zehn Jahren ehrenamtlich die Menschen in Altena zusammenschweißt und das Leben in der Provinz ein Stück weit besser macht. So genannte Pflanzpaten verschönern die Innenstadt mit Blumen, in einem Repair-Café werden Spielzeuge und Computer in Schuss gebracht, junge Menschen schulen Ältere in digitaler Technik, diese revanchieren sich mit Nachhilfe.
Die 51-jährige Wesemann erinnert sich, wie bei ihr damals der Groschen fiel, dass sich in Altena etwas ändern muss: "Der Bürgermeister lud zu einer Informationsveranstaltung ein und sagte, wir können in dem Stil nicht weitermachen. Also entweder sehen wir zu, wie wir in Altena immer weniger werden oder aber wir begreifen das Schrumpfen auch als Chance." Bei Isenbeck dagegen dringt Hollstein mit seinem Appell zunächst nicht durch. "Die ganze Stadt war in eine Art Depression verfallen, auch ich. Wir waren verzweifelt, haben gesagt, das hat hier doch alles keinen Sinn mehr, wir müssen auch abhauen."
Warum Altena noch lange nicht über den Berg ist
Die konkrete Chance: die Bertelsmann-Stiftung wählt Altena 2006 als eine von bundesweit sechs Kommunen für das Projekt "Neues Altern in der Stadt" aus. Das Vorhaben soll zunächst nur die Lebensqualität der Senioren in Altena verbessern. Doch weil immer mehr Menschen mitmachen, geht es am Ende auch um die Lebensqualität aller Bewohner von Altena. "Eine Gruppe, in der ich auch war, hat Ideen entwickelt, wie wir das Stadtbild verschönern können, eine andere hat sich um Begegnungszentren gekümmert und einen Grillplatz entworfen und eine dritte hat sich Gedanken über Kultur- und Jugendangebote gemacht", denkt die 75-jährige Isenbeck zurück, "am Ende waren wir 80 Leute!"
Das Projekt mündet schließlich in die Initiative "Stellwerk", die sich in enger Zusammenarbeit mit der Stadt um alle Belange Altenas kümmert. So auch um die Flüchtlinge - Altena hatte 2015 noch wesentlich mehr Personen aufgenommen als vorgesehen, weil man junge Menschen in die Kleinstadt holen wollte. Die Stadt und die Ehrenamtler von Altena bewältigten die neue Situation aufgrund ihrer Projekterfahrung viel besser als andere Städte, mit sogenannten "Kümmerern", die jeweils eine Familie betreuen. Ist Altena also insgesamt auf einem guten Weg? "Wir brauchen mehr junge Leute, die sich engagieren", mahnt Wesemann und Isenbeck ergänzt: "Wir müssen die Lennestraße wieder zu einer Geschäftsstraße machen!"
Weshalb die Lennestraße noch nicht wieder die alte ist
Die Lennestraße ist Altenas Fußgängerzone, doch um wieder als Geschäftsstraße glänzen zu können, ist es noch ein weiter Weg. An einem Haus hängt ein lebensgroßer Spiderman an der Fassade: aber Peter Parker dürfte es hier wahrscheinlich zu langweilig werden. Zwar gibt es eine Apotheke, eine Bank, ein Reisebüro, einen Kiosk und auch ein griechisches Restaurant, aber dazwischen immer wieder Geschäfte, die leer stehen – rund 20 an der Zahl. Der Bürgermeister versucht, mit "Pop-Up-Läden" gegenzusteuern: Interessierte können für drei Monate eine Idee ausprobieren und erhalten von der Stadt einen Zuschuss. Läuft das Geschäft, können sie verlängern.
Über potenzielle Kunden müssen sich die Ladeninhaber eigentlich keine Sorgen machen: denn jeden Tag werden Dutzende Menschen vom Aufzug der Burg Altena, dem Wahrzeichen der Stadt, in die Fußgängerzone ausgespuckt. In einer halben Minute geht es 85 Meter nach unten – oder nach oben. Wieder so eine Idee von Andreas Hollstein, wieder so ein Vorschlag, der nicht nur auf Zustimmung stieß. "Es haben damals schon ein paar Menschen befürchtet, dass das ein Millionengrab wird. Es gibt ja auch in Deutschland schon viele Beispiele, dass so etwas auch schief gehen kann", sagt Stephan Sensen von der Märkischen Kulturstiftung Burg Altena. "Wir wussten ja auch nicht, wie technisch anspruchsvoll das Ganze wird, aber wir haben dann Ende 2012 mit dem Bau begonnen, und April 2014 war der Aufzug fertig."
Wie Tourismus einer schrumpfenden Stadt helfen kann
Seitdem strömen 130.000 Menschen jedes Jahr zur Burg Altena, doppelt so viele wie zu Zeiten vor dem Aufzug. Und dann ist da noch das Mittelalterfest Anfang August, das die Zuschauer anzieht. Die schrumpfende Stadt soll also verstärkt vom Tourismus profitieren. Und geht dabei kreative Wege. "Der Fahrstuhl ist nicht nur ein Beförderungsmittel, sondern ein unterhaltsamer Erlebnisaufzug, der auf dem Weg dorthin virtuell bespielt wird, mit Sagen und Legenden aus der Region", erklärt Sensen das Konzept.
Die Burg aus dem 12. Jahrhundert bietet den Besuchern nicht nur verschiedene multimediale Ausstellungen, sondern ist auch Ort der ersten Jugendherberge der Welt: 1914 noch vor Beginn des Ersten Weltkrieges eröffnet, ist sie heute jede Woche randvoll mit Schülern aus Deutschland, den Niederlanden bis hin nach Lateinamerika. "Das Thema Tourismus haben Stadt und Kreis trotzdem viel zu spät entdeckt", klagt der 55-jährige Sensen, "wir haben da viel zu viel Zeit verloren."
Wo Altena in den nächsten Jahren die Schwerpunkte setzt
Tourismus stärken, städtische Infrastruktur anpassen und modernisieren sowie Politik für alle Generationen machen, mit verstärktem bürgerschaftlichem Engagement – Altenas Zauberformel, um sich gegen das Schrumpfen der Stadt zu stemmen. Gemeinsam mit der italienischen Stadt Isernia und Igoumenitsa aus Griechenland soll Altena nun ein gemeinsames Konzept auf europäischer Ebene entwickeln, wie Bürgerbeteiligung eine Chance für kleiner werdende Klein- und Mittelstädte sein kann. Altena ist sogenannter "LEAD Partner" von "Urbact", einem europäischen Programm zur Förderung einer nachhaltigen Stadtentwicklung.
Die Kleinstadt bleibt also am Ball, muss es auch tun, denn Stillstand kann man sich nicht erlauben. "Wir müssen unser Gewerbegebiet modernisieren, das haben wir 20 Jahre schleifen lassen. Wir müssen an den Breitbandausbau ran, jeder muss hier einen funktionierenden Internetzugang haben. Und wir müssen neue Wohnprojekte umsetzen", umreißt Andreas Hollstein die Pläne für die nächsten Jahre. Doch der Bürgermeister bleibt Realist: "Wir dürfen nicht träumen. Als Klein- und Mittelstadt in Deutschland kann man sich nur das Ziel setzen, das Niveau einigermaßen zu halten. Und dies auch nachhaltig finanzieren zu können."