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Gottfried Keller zum 200. Geburtstag

Jochen Kürten
19. Juli 2019

Gottfried Keller gehört zu den Großen der deutschsprachigen Literaturgeschichte, den Schweizern gilt er als Nationaldichter. Ein Gespräch über die Leiden des "bürgerlichen Außenseiters" mit seinem Biografen.

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Gottfried Keller
Bild: picture-alliance/akg-images

"Bei oberflächlicher Betrachtung kann man manchmal tatsächlich glauben, dass seine Werke ein Loblied schweizerischer Bürgerlichkeit und schweizerischer Heimatliebe anstimmen", sagt Ulrich Kittstein. Wenn man hingegen genauer hinschaue, dann stoße man "immer wieder auf Haken und Ösen, auf die Abgründe, die sich dahinter verbergen." Gottfried Keller kann man eben so oder so lesen - vorausgesetzt man liest den Schweizer Dichter: Rund 900 Seiten umfasst sein bekanntester Roman "Der grüne Heinrich" aus dem Jahre 1855.

Kellers Roman "Der grüne Heinrich" gilt noch heute als Höhepunkt deutscher Literatur

Ulrich Kittstein ist Professor für Neuere Literaturgeschichte in Mannheim und hat rechtzeitig zum 200. Geburtstag des Schweizer Schriftstellers Gottfried Keller (1819-1890) eine voluminöse Biografie vorgelegt. Kittstein muss es also wissen, wenn er von Oberfläche und Tiefe im Werk Kellers philosophiert. Für beides finden sich Belege, im Werk wie in der Rezeption Gottfried Kellers.

Buchcover Gottfried Keller Ein bürgerlicher Außenseiter von Ulrich Kittstein

Keller erblickte am 19. Juli vor 200 Jahren in Zürich als Kind des Drechslermeisters Rudolf Keller und seiner Ehefrau Elisabeth das Licht der Welt. Seine Romane, "Der grüne Heinrich" und "Martin Salander" (1886), seine berühmte und immer wieder neu aufgelegte Novellensammlung "Die Leute von Seldwyla" (1856/74) sowie die "Züricher Novellen" (1877) gehören zur Pflichtlektüre eines jeden Germanistik-Studenten und zum Schatz deutscher Literatur. Lesenswert sind viele Bücher Gottfried Kellers auch heute noch. Deutschlands bekanntester Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki (1920-2013) zählte "Der grüne Heinrich" zu den 20 bedeutendsten deutschsprachigen Romanen aller Zeiten.

Das habe vor allem auch ästhetische Gründe, wie Kittstein meint: bei Keller zeige sich eben "wirklich große Erzählkunst". Wie der Autor es geschafft habe, "mit wenigen Strichen, oft mit ganz wenigen Sätzen, Figuren, Situationen, Konstellationen, Szenen zu schaffen, die unglaublich einprägsam und plastisch sind, und die einem nach der ersten Lektüre schon im Gedächtnis haften bleiben", sei schon sehr eindrucksvoll.

Gottfried Keller: Meister der Novellenkunst

Gottfried Keller gehört zu den bekanntesten und populärsten Schriftstellern der Schweiz und somit auch der deutschsprachigen Literatur. Sein Werk umfasst außer den erzählerischen Titeln Lyrik, politische Schriften, Essays und Theaterstücke. Keller heute wiederlesen heißt aber auch: sich einlassen auf eine besondere, zum Teil auch ausschweifende, detailverliebte und manchmal auch verschnörkelte Erzählweise. Man muss sich Zeit nehmen: Als "Entschleuniger des Erzählens" beschrieb ihn jüngst Jochen Hieber in der Tageszeitung "Frankfurter Allgemeine" in einem Artikel zum 200. Geburtstag.

Skizzen von Gottfried Keller
Zunächst versuchte sich Gottfried Keller als Zeichner und MalerBild: picture-alliance/dpa

Kellers Lebensweg im 19. Jahrhundert verlief alles andere als gradlinig, und wenn man ihn heute immer als großen Erzähler des bürgerlichen Realismus deutet, dann sollte man wissen: Keller selbst hat dieses so oft beschworene Bürgertum kaum gelebt, zumindest sehr lange nicht. "Immer, wenn man liest, wie Keller über solide Bürgerlichkeit schreibt, wie er häufig bürgerliche Ideal-Figuren präsentiert, muss man sich bewusst machen, dass er selbst über lange Jahre, besser Jahrzehnte, durchaus keine bürgerliche Ideal-Karriere gemacht hat", sagt Ulrich Kittstein. Keller habe vielmehr ein Leben geführt, das "ganz und gar unsolide war."

Kein bürgerlicher Bildungsweg: Gottfried Keller

Keller war ein (unfreiwilliger) Schulabbrecher, ein gescheiterter (weil wohl wenig talentierter) Maler, ein wenig erfolgreicher Theaterautor, für viele Jahre ein "verhinderter" Schriftsteller: "In der Sicht der Zeitgenossen und in den Maßstäben, die er selbst propagiert hat, hat er ja tatsächlich, bis er 42 Jahre alt war, im Grunde genommen nichts wirklich Produktives gearbeitet, kaum etwas verdient. Er hat bis im Alter von 42 Jahren hauptsächlich seiner Mutter und seiner Schwester auf der Tasche gelegen, die nun ihrerseits auch nicht gerade mit Glücksgütern gesegnet waren."

Zeitgenössisches Porträt des Schweizer Schriftstellers Gottfried Keller
Zeitgenössisches Porträt des Schweizer Schriftstellers Gottfried Keller Bild: picture-alliance/dpa

Keller also heute nur als Schriftsteller bürgerlicher Tugenden zu deuten, hieße ihn auch gründlich misszuverstehen. "Ein bürgerlicher Außenseiter" heißt Kittsteins Keller-Biografie im Untertitel dann auch und das besagt zweierlei: Gottfried Keller hat lange von einem Leben geträumt, das er selbst gar nicht gelebt hat. Und: Er hat dieses Leben auch schon früh hinterfragt: "Was ich bei Keller besonders faszinierend finde, ist, dass er dieses bürgerliche Ideal immer mit einer gewissen Distanz und Skepsis, einem gewissen Abstand betrachtet hat", so Kittstein.

1861 bekam Keller seine lang erträumte bürgerliche Stellung

Keller hat sein Leben in Zürich begonnen -  dort ist er auch 1890 gestorben -, viele seiner jungen Jahre hat er in Deutschland verbracht, in Heidelberg und in Berlin, dort war auch seine schriftstellerisch fruchtbarste Periode. Erst spät, 1861, hat er in Zürich eine gut dotierte Stelle als "Erster Staatsschreiber des Kantons Zürich" angetreten. 15 Jahre lang wirkte er im Amt und lebte endlich das bürgerliche Leben, das er sich so herbeigesehnt hatte, mit Verdienst und öffentlicher Anerkennung.

Szene aus "Romeo und Julia auf dem Dorfe" (1983) von Siegfried Kühn
Auch in der DDR wurden Novellen des "bürgerlichen" Gottfried Keller verfilmt: "Romeo und Julia auf dem Dorfe" (1983)Bild: DEFA-Stiftung/Jürgen Hoeftmann

Doch so richtig angekommen im Bürgertum war er trotzdem nicht, resümiert sein Biograf: "Zumindest in einer Hinsicht ist er bis zu seinem Lebensende nicht den bürgerlichen Normen gerecht geworden: Er hat nie geheiratet, er hat nie eine Familie gegründet, er ist ein etwas grämlicher, einzelgängerischer Junggeselle geblieben, der einen Großteil seines Lebens im Wirtshaus verbracht hat."

Kellers Lebensthema: "Wie kann der einzelne in der Gesellschaft leben?"

Der Traum vom perfekten bürgerlichen Leben blieb ihm also verwehrt. Die Themen, die seine Romane und Erzählungen durchziehen und die literarischen Figuren, denen er zum Leben verhalf, belegen dies. Keller war aber auch ein moderner, schon in die Zukunft schauender Schriftsteller. Ulrich Kittstein: "Ein Grundsatzthema, das ihn immer beschäftigt hat, das mit diesem Aspekt des Bürgerlichen verbunden ist, und das man sicherlich auch heute noch als ganz aktuell ansehen kann, ist die Frage, wie der Einzelne sich mit der Gesellschaft arrangieren kann."

Gottfried Keller Schweizer Schriftsteller Denkmal in Zürich
In der Heimat hat man Keller viele Denkmäler gesetzt: hier das des Bildhauers Otto Charles Baenninger in ZürichBild: picture-alliance/Keystone/C. Beutler

Gottfried Keller hat sich in seinen Büchern immer auch die Frage nach einem sinnvollen Leben des Menschen gestellt. "Wie er einerseits seine Wünsche, seine Bedürfnisse erfüllen und befriedigen und wie er sich andererseits sozial integrieren und zu einem nützlichen und angesehen Mitglied der Gesellschaft werden kann, also diese Balance zwischen individuellen Ansprüchen und sozialen Anforderungen", das, so der Keller-Experte, zeichne ihn aus.

Gottfried Keller blickte auf die Welt der Finanzen

Und mehr noch: Keller habe sich mit einigen Fragen ganz weit vorgewagt, an der Moderne gekratzt, am 20. Jahrhundert angeklopft. Kittstein nennt ein Beispiel: "In seinen Werken kommen immer wieder Figuren vor, die Geld scheffeln, die ungeheure Reichtümer erwerben, ohne auch nur das kleinste bisschen nützliche Arbeit geleistet zu haben, einfach, indem sie sich die komplexen Strukturen der kapitalistischen Geldwirtschaft zu Nutze machen und durch Tricks und Intrigen, durch Manipulationen, durch puren Schwindel Gewinn erwirtschaften." Heute würde man wohl von Heuschrecken oder Hedgefonds-Managern sprechen.

So ist der vor 200 Jahren geborene Gottfried Keller unbedingt einer jener Autoren deutscher Sprache, die auch heute noch zum Lesen locken - auch wenn seine Bücher Lesezeit kosten. Die Mühe lohnt, die Zeit ist gut investiert.

Buchcover Gottfried Keller Ursula mit Illustrationen von Hannes Binder
Bild: Galiani Verlag Berlin

Zum Weiterlesen:

Zum 200. Geburtstag Gottfried Kellers sind einige Bücher des Schweizer Autors neu aufgelegt worden: Seine Erzählung "Ursula" ist in einer reizvoll illustrierten Ausgabe (Zeichnungen: Hannes Bilder) beim Galiani-Verlag erschienen, ISBN 978-3869711997.

Beim Reclam Verlag ist die Novelle "Der Schmied seines Glücks" (ISBN 9783150195871) sowie das Bändchen "Keller zum Vergnügen" (ISBN 978-3-15-019498-0) herausgekommen. Diogenes hat die wichtigsten Novellen ("Die Leute von Seldwyla"/"Zürcher Novellen"/"Meisterzählungen") sowie "Der grüne Heinrich" als Taschenbuchausgaben wieder aufgelegt.

Bei dtv sind die beiden wohl populärsten und auch verfilmten Novellen "Kleider machen Leute" und "Romeo und Julia auf dem Dorfe" neu erschienen.

Die Gottfried Keller-Biografie "Ein bürgerlicher Außenseiter" von Ulrich Kittstein ist bei der "Wissenschaftlichen Buchgemeinschaft Academic" erschienen, 512 Seiten, ISBN 978-3- 534-27072-9.