Locarno Filmfestival ohne Goldenen Leoparden
5. August 2020Es war immer ein besonderer Moment, wenn nach Sonnenuntergang 8000 Filmfans auf der Piazza Grande Platz nahmen. Der mit Arkaden gesäumte Platz ist einer der größten der Schweiz und das pulsierende Herz Locarnos. Direkt am Lago Maggiore gelegen, wird er jedes Jahr im August zum wunderschönen Freiluftkino. Dann läuft hier die exquisite Filmauswahl des Locarno Film Festivals, eines der ältesten und renommiertesten Arthouse-Festivals weltweit.
Mit Ausbruch der Corona-Pandemie war schnell klar, dass das Festival 2020 nicht in gewohnter Form stattfinden kann. Auf dem Höhepunkt der Ausbruchswelle entschied man sich daher für eine Absage des regulären Ablaufs und konzentrierte sich auf eine abgespeckte, virtuelle Version. Eigentlich wäre es in diesem Jahr die 73. Ausgabe des "Locarno Film Festival", doch die Veranstalter sprechen lieber von "Locarno 2020: For the Future of Film". Eine Sonderedition also, mit viel Leidenschaft für das Kino in Zeiten der Corona-Krise.
Mit den ersten Lockerungen der Corona-Maßnahmen auch in der Schweiz wagen Direktorin Lili Hinstin und ihr Team nun eine Hybridform: Neben dem Screening im Online-Vorführraum werden in drei lokalen Kinos weitere Filme der zum Teil neu konzipierten Reihen gezeigt - auf der Piazza Grande wird in diesem Jahr jedoch keine Leinwand mehr aufgebaut. Auch der renommierte Wettbewerb und das Rennen um den Goldenen Leoparden fallen komplett aus.
Rettung von unterbrochenen Filmproduktionen
Auszeichnungen und vor allem auch Preisgelder werden trotzdem verliehen. Im Rennen für die neu gestartete Reihe "Films After Tomorrow" sind 20 Produktionen, davon zehn internationale und zehn schweizerische, die die Arbeiten wegen des Corona-Ausbruchs abbrechen mussten - und die nun vor großen Herausforderungen stehen. Eingereicht wurden mehr als 500 Filmprojekte aus rund 90 Ländern.
Ob es nun bei der Vorproduktion oder im Schnitt zum Abbruch kam: Einen fertigen Film gibt es in dieser Sektion nicht zu sehen. Die Jury wird daher anhand von Filmzusammenfassungen, Absichtserklärungen der Regisseure sowie Finanzierungsplänen entscheiden. Die Sitzungen werden virtuell stattfinden, die Chance auf einen Preis ist recht groß: Sowohl in der internationalen als auch der nationalen Auswahl werden fünf Siegerprojekte gekürt.
Im physischen, erlebbaren Teil des Festivals werden in den lokalen Spielstätten rund 100 Vorführungen gezeigt, darunter der Kurzfilm-Wettbewerb "Pardi di domani", die Retrospektive "Open Doors" sowie "Überraschungsfilme", bei denen das Publikum erst während der Vorführung den Titel erfährt.
Erstes Filmfestival seit Berlinale
Eröffnet wird das Festival mit "First Cow" der US-amerikanischen Independent-Filmemacherin Kelly Reichardt. Eine symbolträchtige Auswahl: Der Film war zuletzt im Februar 2020 auf der Berlinale gelaufen, kurz vor den europaweiten Lockdowns. "First Cow" stehe für einen der letzten Momente, "in denen man an Großanlässen noch die kollektive Erfahrung des gemeinsamen Kinobesuchs machen konnte", erklärten die Verantwortlichen des Locarno Filmfestivals.
Zum großen Glück der Festivalmacher sprang in diesem Ausnahmejahr keiner der Sponsoren ab - trotz abgespeckter Hybridversion mit geschrumpften Zuschauerzahlen und der anzunehmenden geringen Medienresonanz. Auch die virtuellen Besucher sind aufgefordert, die gebeutelte Filmwelt zu unterstützen: Die limitierten Tickets für "Piazza Online" sind zwar kostenfrei, es kann aber gespendet werden. Die Einnahmen sollen dann ausgewählten Schweizer Programmkinos zugutekommen.
Auch der Abschluss des Festivals wird im Zeichen der Pandemie stehen: Auf dem Programm stehen unter anderem neun Kurzfilme von schweizerischen Regisseuren, die während des Lockdowns entstanden sind.