Vom "Sausack" zum Spitzenpolitiker
24. Januar 2017Deutsche Politik und Martin Schulz - das konnte man bisher mit einem Wort zusammenfassen: Würselen. Würselen liegt nördlich von Aachen, hat rund 38.000 Einwohner. Hier wuchs Martin Schulz, heute 61 Jahre alt, auf. Hier lebt er immer noch. In Würselen war er Bürgermeister, elf lange Jahre, von 1987 bis 1998. Und hier führte er mit seiner Schwester eine Buchhandlung.
Ansonsten ist der Politiker Schulz bislang der Europapolitiker Schulz: Als Abgeordneter im Europaparlament, als Chef der dortigen SPD-Landesgruppe, als Chef der Sozialistischen Fraktion. Als Spitzenkandidat der europäischen Sozialisten bei der Europawahl 2014. Und als Präsident des Parlaments. Der Bundespolitiker Schulz entsteht erst jetzt so richtig.
"Ich war ein Sausack"
In Würselen durchlebte der junge Martin Schulz auch seine schwerste Zeit. Als jüngstes von fünf Kindern eines Polizisten wurde er als Teenager zum Alkoholiker, wurde nicht zum Abitur zugelassen und war Mitte der 1970er Jahre, mit 20, ein Jahr arbeitslos. Heute redet Schulz ganz offen über diese Zeit: "Ich war ein Sausack und kein besonders angenehmer Schüler."
Aber schon in dieser Zeit war er auch in der SPD aktiv. Als er Bürgermeister wurde in seiner Heimatstadt, mit 32 Jahren, war er das jüngste Stadtoberhaupt in ganz Nordrhein-Westfalen. Seit 1984 ist er Mitglied im SPD-Vorstand Kreis Aachen, seit 20 Jahren auch dessen Chef. Und der SPD-Führung auf Bundesebene, dem Vorstand und Präsidium, gehört Schulz seit 1999 an - satte 18 Jahre, "als dienstältestes Mitglied", wie er stolz verkündet.
Überraschend unverbraucht
Seine rheinische Natur kommt immer wieder zum Vorschein, macht ihn zum beliebten Gast in Talk-Shows. Schulz geht kaum einer Konfrontation aus dem Weg. Auch mit 62 Jahren wirkt er deshalb jetzt, wo er sich auch in bundespolitische Debatten einmischt, überraschend unverbraucht.
So sagte er im neuen Jahr der "Süddeutschen Zeitung", Gerechtigkeit und Demokratie würden derzeit grundsätzlich in Frage gestellt: "Die Demokratie ist gefährdet durch Verzweiflung. Wenn die Menschen das Gefühl haben, dass sie ihren Beitrag für die Gesellschaft leisten, die Gesellschaft für sie aber nichts tut und sie nicht respektiert, werden sie radikal. Wenn sich die Menschen durch die Demokratie nicht beschützt fühlen, suchen sie Alternativen."
Gegen den grassierenden Rechtspopulismus will Schulz Klartext reden: "Mir wird oft vorgeworfen, ich sei zu impulsiv. Sie kommen den Rechtsextremen aber nicht bei durch fein ziselierte Argumente. Auf einen groben Klotz gehört manchmal auch ein grober Keil."
Klare Worte zu Russland, EU und Israel
Dass er zulangen kann, hat Schulz in Brüssel und Straßburg bei Themen bewiesen, die ihn auch als Bundespolitiker betreffen werden. Über Russland unter Präsident Wladimir Putin: "Was Russland macht, ist völlig unannehmbar. Hinter den aggressiven Handlungen Russlands steckt ein Konzept von Gesellschaft, eine Sicht auf die Welt, die mit unserer europäischen Philosophie von gegenseitigem Respekt und Offenheit nichts zu tun hat." Und über sein bisheriges Lieblingskind, die Europäische Union und ihre Vertiefung: "Die EU befindet sich in einem beklagenswerten Zustand. Die zentrifugalen, extremen Kräfte gewinnen Wahlen und Referenden. Wenn wir den Kern des europäischen Projekts jetzt in Frage stellen, dann spielen wir mit der Zukunft der nächsten Generation."
Berühmt wurde Schulz durch seine Rede in der Knesset, dem israelischen Parlament, im Februar 2014, auf Deutsch, in der er den israelischen Siedlungsbau offen kritisierte. Zahlreiche Abgeordnete verließen unter lauten Protestrufen den Saal.
Traumergebnis in der SPD
Vielleicht ist Schulz' klare Rede auch der Grund für seine überraschend hohe Beliebtheit. Laut jüngsten Umfragen ist er bei den Deutschen ebenso beliebt wie Kanzlerin Angela Merkel von der CDU und weit beliebter als SPD-Chef Sigmar Gabriel, der ihn nun zur Kanzlerkandidatur auffordern will. Bei der Europawahl 2014 holte er als Spitzenkandidat für die SPD in Deutschland 27,3 Prozent, ein besseres Ergebnis als Peer Steinbrück als Kanzlerkandidat ein rundes halbes Jahr zuvor (25,7 Prozent).
Und auch in seiner Partei mögen sie Schulz: Im September 2013 wurde er mit knapp 98 Prozent zum Europabeauftragten gewählt. Er erzielte dabei mit Abstand das beste Ergebnis im neuen SPD-Vorstand.