Massaker-Überlebender: "Rechtsextremisten europaweit vernetzt"
22. Juli 2014Deutsche Welle: Das Massaker war vor drei Jahren und der Prozess gegen Breivik, den Sie auch besucht haben, ist zwei Jahre her. Wie geht es Ihnen heute?
Bjørn Ihler: Mir geht es viel besser als während der Ermittlungen und während des Prozesses. Heute reise ich herum und arbeite aktiv gegen Nazismus und Rechtsextremismus. Und das speist sich natürlich aus vielen Hoffnungen, die daraus erwachsen, was ich erleben musste. Aber ich kann mein Leben leben und habe die Kontrolle darüber.
Wie stark sind Ihre Erinnerungen an diesen Tag?
Nun ja, die Erinnerungen sind da und werden es wohl immer bleiben. Aber die quälen mich nicht mehr.
Während des Massakers auf der Insel Utøya haben Sie das Leben zweier Jungen gerettet. Stehen Sie noch in Kontakt mit ihren Familien?
Ich habe losen Kontakt mit einigen ihrer Verwandten auf Facebook. Aber die Jungen lasse ich im Moment in Ruhe. Sie wissen, dass sie mich ansprechen können, wenn sie möchten. Aber ich denke, ich verkörpere für sie immer noch eine Erinnerung an das Trauma, und das respektiere ich und lasse sie in Frieden.
Wie wirkt sich das Massaker auf Ihr heutiges Leben aus - haben Sie eine Mission oder möchten Sie die Welt zu einem besseren Ort machen?
Ja, ich habe diese Mission. Und ich denke, ich habe sie immer gehabt, unabhängig davon, was passiert ist. Ich hätte mich sowieso aktiv gegen Rassismus und für Frieden eingesetzt. Aber natürlich sehe ich nach den Ereignissen das alles unter einem bestimmten Fokus und natürlich nutze ich meine Erfahrung in meiner Arbeit.
Nach dem Drama haben die Norweger viel über Offenheit und mehr Demokratie diskutiert. Wo steht die norwegische Gesellschaft heute?
Meiner Meinung nach war das eine Show-Debatte. Direkt danach haben sie versucht, neue Gesetze zu erlassen, um Personen länger zu inhaftieren, was äußerst undemokratisch ist. Die führende Partei, die Arbeiterpartei, hat mich aufgefordert, alle Artikel, die ich für Zeitungen schreibe, der Parteiführung zur Zensur vorzulegen. Das ist natürlich auch überhaupt nicht offen und nicht demokratisch. Ich denke, sie haben all diese Dinge über Demokratie und Offenheit gesagt, sehr schöne Dinge, aber sie haben sie nicht umgesetzt.
Sind Sie enttäuscht?
Ja.
Hat das, was in Ihrem Land passiert ist, Folgen für den Rest Europas?
Ja, es hat Konsequenzen für Europa. Rechtsextremisten sind europaweit vernetzt. Sie kommunizieren miteinander, und wir sehen das zum Beispiel an den Briefen zwischen Beate Zschäpe und Anders Breivik. Beide haben den selben ideologischen Hintergrund. Wir arbeiten international gemeinsam dagegen, weil sie international für ihre rassistischen Ziele arbeiten.
Haben Breiviks Taten den Blick verändert, mit dem wir auf Migranten schauen? Oder sollten wir unseren Blick ändern?
Ich glaube überhaupt nicht, dass Breivik unseren Blick auf Migranten geändert hat. Denn Breivik und Leute, die wie er denken, haben Einwanderung immer schon so gesehen, wie sie es jetzt tun. Und der Rest der Bevölkerung sieht es so, wie sie es halt sehen. Dieser Blick der Mehrheit hat in gewisser Weise Breiviks Perspektive gerechtfertigt, weil er von Toleranz geprägt ist - auch von der Toleranz, mit etwas zu leben, das uns aufgezwungen wurde. Also, nein, ich glaube nicht, dass viele Menschen ihre Sichtweise Breiviks wegen geändert haben.
Als Sie im Juli in München waren, haben Sie den Prozess gegen Beate Zschäpe, das mutmaßliche Mitglied des rechtsextremen Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU), besucht. Welchen Eindruck haben Sie gewonnen?
Mein Eindruck war, dass dieser Prozess viel mehr in die Tiefe und in Einzelheiten geht als der gegen Breivik. Er dauert natürlich auch länger und der Fall ist komplexer, weil er viel mehr einzelne Taten umfasst. Aber insgesamt gibt es viele Ähnlichkeiten.
Was unterscheidet die Verbrechen von Breivik und dem NSU?
Ein wesentlicher Unterschied ist, dass Breivik die Mehrheit der Bevölkerung angegriffen hat. Er hat junge Leute attackiert. Der NSU hat überwiegend türkische Einwanderer angegriffen. Das ist definitiv ein Unterschied - aber getan haben sie es aufgrund der gleichen politischen Ziele.
Bjørn Ihler, 22, war auf der Ferieninsel Utøya, als der rechtsextreme Attentäter Anders Breivik am 22. Juli 2011 dort 68 Menschen erschoss, viele von ihnen Jugendliche in einer Freizeit der Sozialdemokratischen Partei. Auf seiner Flucht konnte er zwei Jungen, acht und neun Jahre alt, in Sicherheit bringen. Der junge Norweger engagiert sich aktiv gegen Rechtsextremismus und Rassismus im Sozialdemokratischen Jugendverband AUF, schreibt für die norwegische Zeitung "Aftenposten" und studiert am Liverpool Institute for Performing Arts Theaterwissenschaften.
Das Gespräch führte Stephanie Höppner.