"Man war zerstört"
8. Mai 2015"Werft Eure Uniform hin, zieht Euch zivil an, der Krieg ist vorbei", die 20-jährige Bronja Katharina Katulski schlief 1945 in einer Baracke am Stadtrand von Leipzig, als der Lagerleiter sie zur Eile trieb. Die "Führerinnen" waren geflüchtet, man hörte Soldaten kommen. Die Amerikaner hatten die Stadt erreicht. Die Bilder stehen ihr 70 Jahre später noch vor Augen: "Da lagen Menschen tot auf dem Boden."
Bronja und andere junge Frauen mussten Kriegsersatzdienst leisten. Bis kurz vorher taten sie das 500 Kilometer westlich von Leipzig, in Bergisch Gladbach bei Köln. Dort mussten sie bei der Ausspähung, Meldung und Blendung feindlicher Flieger die Soldaten ersetzen, die an der Front waren. Sie erlebten schwerste Bombenangriffe. Weil sie einmal panisch in den Luftschutzbunker flohen, bedrohte sie am nächsten Tag ein Wehrmachts-Offizier. Er sprach von Fahnenflucht: "Euch müsste man alle an die Wand stellen und erschießen!" Zur Strafe versetzte er sie nach Leipzig. Im Zug erlebten sie wieder Bombenangriffe.
Als sie am nächsten Morgen in Leipzig das Lager überstürzt verlassen sollten, erlaubte der Lagerleiter ihnen noch, sich Fahrräder mit Decken und Kleidung zu beladen. Die könnten sie bei Bauern gegen Lebensmittel eintauschen, um die nächsten Tage etwas zu essen zu haben. Bronja und ihre Freundin liefen auf einer Chaussee den fremden Soldaten in die Arme. Die nahmen ihnen alles weg, auch ihre kleinen Taschen mit den letzten persönlichen Dingen.
"Wir waren sehr froh, dass sie uns nicht mitgenommen hatten", sagt Schwester Maria Hyazinth, wie Bronja heißt, seit sie ins Kloster ging. Wie empfand sie das Kriegsende? Einerseits Freude beim Gedanken an die Familie, sagt sie, aber sie fühlte sich auch bedroht in den chaotischen Zuständen. Sie war erleichtert über das Ende des Bombenalarms, aber: "Man war zerstört. Dass ich nicht verrückt geworden bin, da hat mich nur der liebe Gott noch festgehalten."
Ohne Verwandte, Bekannte, ohne Ortskenntnis und jeden Besitz stand Bronja im April 1945 in Leipzig. Die heute 90-Jährige blickt trotz ihrer belastenden Kriegserfahrungen dankbar auf ihr Leben zurück: "Gott hat mich nie verlassen." 1946 trat sie dem Orden der Arenberger Dominikanerinnen bei. Briefe an ihre Familie kamen damals mit dem Vermerk zurück: "Empfänger unbekannt".
Bronja war mit vier älteren Geschwistern in einer katholischen Familie in Danzig an der Ostsee aufgewachsen, damals freie Reichsstadt. Auch dort gaben die Nationalsozialisten seit ihrem Wahlsieg im Mai 1933 den Ton an. Ihr Vater war Schneidermeister. Die 90-Jährige beugt sich vertraulich herüber: "Er hat immer die Auslandssender nachts gehört, mit einer dicken Decke über dem Kopf, damit nur kein Schall rauskam." Deshalb habe er gewusst, dass der Krieg kommen würde. "Er hat uns gesagt: Ihr müsst viel beten."
Kriegsbeginn 1939: "Wir haben geschrien"
Als am 1. September 1939 auf der Halbinsel Westerplatte bei Danzig mit dem deutschen Angriff auf Polen der Krieg begann, kam die 14-jährige Bronja mit ihrer Mutter und den Geschwistern aus der Frühmesse. Unruhe war in der Stadt. Menschen wurden aus ihren Häusern auf Lastwagen gezerrt, vor allem Juden. Auf einem Wagen entdeckten sie Bronjas Vater: "Einer hatte ihn angezeigt - wir seien keine Nazis." Die Festgenommen wurden in eine Schule gebracht. Dort prügelte man auf sie ein.
Die jüdischen Familien schrien, erinnert sie sich: "Wir haben auch geschrien." Ein Freund ihres Vaters, der mittlerweile bei der berüchtigten SS diente, setzte sich für ihn ein: Er habe doch im Ersten Weltkrieg für Deutschland gekämpft. Das galt auch für viele jüdische Männer, ihnen nützte es nichts. Der Vater kam frei, grün und blau geschlagen. Auch wer nicht deportiert wurde, spürte den steigenden Druck der Nazi-Herrschaft gegen Andersdenkende. Die katholische Schule, an der Bronja angemeldet war, wurde geschlossen, kritische Priester wurden verfolgt oder sogar ermordet.
Die Männer kamen an die Front, Mädchen wie Bronja mussten im Haushalt eines Soldaten arbeiten. Mit 16 Jahren kam die Einberufung zum Reichsarbeitsdienst (RAD), einem Pflichtdienst, in dem Jugendliche auch ideologisch gedrillt wurden. Ihre Eltern sollte Bronja nie wieder sehen. Ihre Mutter starb kurz nach Kriegsende in Danzig völlig unterernährt an den Folgen der Cholera, ihr Vater bald darauf. Sie erfuhr das erst, nachdem ihr Bruder 1949 aus russischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt war und sie suchen ließ.
Nach dem Reichsarbeitsdienst auf einem großen Bauernhof wurde Bronja nicht wie erhofft entlassen. Man verpflichtete sie zum Kriegsersatzdienst. 800 Kilometer von zuhause entfernt musste sie in Hannover in einer unterirdischen Munitionsfabrik arbeiten. Sie erinnert sich an italienische Kriegsgefangene, die hungrig Mülltonnen durchwühlten. Bronja legte ihnen ihre Butterbrote hin. Ein Soldat drohte ihr: "Wenn Sie das noch einmal machen, zeige ich Sie an!" Danach, sagt sie, "habe ich es getan, wenn sie (die Soldaten) abgelöst wurden".
Kriegsende: Zuflucht in der Kirche - Gewalt gegen Frauen und Mädchen
"Was jetzt?", fragten sich Bronja und ihre Freundin 1945 in Leipzig nach der Begegnung mit den Soldaten. Die Freundin wollte sich nach Hause durchschlagen. Bronja war das zu gefährlich, sie suchte Zuflucht in einer katholischen Kirche, wie sie das immer getan hatte. Der Pfarrer vermittelte sie an eine Arztfamilie, deren Kinder sie gegen Kost und Logis hütete, erst auf dem Land, dann in der Stadt. Im Sommer 1945 lösten sowjetische Soldaten die US-Amerikaner in Leipzig ab.
Es war eine Zeit voller Gewalt gegen Frauen und Mädchen, erinnert sich Schwester Maria Hyazinth an die Angst vor Vergewaltigungen. Auf dem Land beschützte sie ein Offizier, der katholische Vorfahren hatte. Später in Leipzig verfolgte sie ein russischer Soldat quer durch die Stadt. Sie flüchtete ins Haus, er klingelte. Zum Glück war sie nur 1,50 Meter groß, sie kletterte in einen Vorratsschrank: "Ich bekam da kaum Luft." Der Soldat fand sie nicht, auch der Arztfrau mit zwei kleinen Kindern passierte nichts. Eine Bekannte aber wurde nach einer Vergewaltigung schwanger. Sie trug das Kind aus, "war aber immer sehr unglücklich". In dieser Zeit wurde auch Bronjas Tante so brutal vergewaltigt, "dass sie fast verblutet wäre".
Angst vor den Deutschen
Angst machten ihr nicht erst die ausländischen Soldaten erinnert sich die 90-Jährige: "Die Deutschen hätten uns Mädchen auch an die Wand gestellt." Filme über den Krieg schaut sie sich nicht an, das macht sie zu traurig: "Wenn ich auch so alt geworden bin, das kann man nicht vergessen."
Auf die Frage nach besonders schlimmen Erinnerungen erzählt Schwester Maria Hyazinth von den politischen Schulungen im Reichsarbeitsdienst: Lesungen aus Hitlers "Mein Kampf", Liedzeilen wie "heute gehört uns Deutschland, morgen die ganze Welt". Sie habe immer versucht, wegzuhören: "So ein Wahnsinn". Sie hat dann gebetet. Es macht ihr Sorgen, wenn sie heute hört und liest, "dass es wieder neue Nazis gibt".