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Politik

Mesale Tolu: Hintergründe eines Urteils

20. Dezember 2017

Die Entlassung von Mesale Tolu aus der Untersuchungshaft hat eine Debatte über die Motive ausgelöst. Vieles könnte die Entscheidung beeinflusst haben. Fest steht: Imagepflege kann die Türkei gut gebrauchen.

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Türkei, Istanbul, freigelassene Journalistin Mesale Tolu
Inzwischen freigelassen: die Journalistin Mesale ToluBild: Reuters/O.Orsal

Außenpolitisch lief es zuletzt nicht ganz rund für die türkische Regierung. Nach der Erklärung von US-Präsident Trump, Jerusalem als die Hauptstadt Israels anzuerkennen, verschlechterte sich das Verhältnis zwischen Istanbul und Washington erheblich. Auch die Beziehungen zu Israel kühlten sich ab, nachdem der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan das Land als "Terrorstaat" bezeichnet und erklärt hatte, er wolle eine türkische Botschaft in Ost-Jerusalem errichten.

Zu diesen Spannungen gesellen sich weitere Herausforderungen. Entschieden müht sich die Türkei, Einfluss zu nehmen auf die künftige Entwicklung der Kurdengebiete in Syrien und im Irak um deren eigenen Staat nach Möglichkeit zu verhindern. Zugleich ist das Verhältnis zur Europäischen Union angespannt. In Brüssel hat man zuletzt die Vorab-Beitrittshilfen um über 100 Millionen Euro gekürzt, auch über eine Erweiterung der Zollunion mag dort niemand mehr reden. Zudem haben große internationale Finanzinstitutionen wie die Europäische Investitionsbank und die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung ihre Finanzierung öffentlicher Projekte in der Türkei beendet.

Auch für die türkische Wirtschaft läuft es eher unerfreulich. Die Direktinvestitionen aus dem Ausland haben seit dem Putschversuch im vergangenen Jahr deutlich abgenommen. Im Jahr 2012 investierten ausländische Unternehmen rund 14 Milliarden Dollar, im laufenden könnten es unter zehn Milliarden sein. Die Lira steht unter starken Inflationsdruck. Allein im November verlor sie rund 13 Prozent ihres Wertes. In der Handelsbilanz hat die Türkei im laufenden Jahr ein Minus von bislang 42 Milliarden Euro angehäuft.

Türkei Sondergipfel der Organisation für Islamische Kooperation (OIC)
Starke Töne gegen Israel: der türkische Präsident Erdogan auf dem Sondergipfel der Organisation für Islamische Kooperation, Dezember 2017 in IstanbulBild: picture-alliance/AP Photo/L. Pitarakis

Demonstration der Autonomie

In dieser Situation hat ein Gericht in Ankara nun entschieden, die deutsche Journalistin Mesale Tolu bis zum nächsten Prozesstermin im April nächsten Jahres auf freien Fuß zusetzen. Und der deutsche Soziologe Sharo Garip darf die Türkei nach zwei Jahren Ausreisesperre verlassen.

Ob diese Faktoren in das Urteil einfließen? Es ist nicht ausgeschlossen, sagt der an der Universität Bremen lehrende Politologe und Türkei-Experte Roy Karadag. Dass die Entscheidung aber just zu diesem Zeitpunkt, kurz vor dem europäischen Weihnachtsfest kommt, könne aber auf noch etwas hinweisen: "Man will einfach demonstrieren, dass man autonom ist und selbst bestimmt, wie das Verfahren läuft. Man zeigt, dass man sich den Zeitvorstellungen der Kritiker aus dem Ausland nicht beugen will."

Inwiefern die Richter wirklich autonom entschieden, lässt sich kaum sagen. Tatsache ist, dass der Gerichtsentscheidung einige auf Entspannung deutende Signale vorausgingen. "Unsere Beziehungen zu Deutschland haben angefangen, sich zu normalisieren", erklärte AKP-Sprecher Mahir Ünal vor kurzem. Wir wollen keine Probleme mit Deutschland." Ähnlich äußerte sich der türkische Vizepräsident Mehmet Simsek. "Die deutsch-türkischen Beziehungen verbessern sich. Sie verbessern sich, nachdem sie eine Talsohle erreicht hatten."

Deutliches Signal nach innen

Während sich die Beziehung zur EU entspannt, bleibt die Lage innerhalb der Türkei kritisch. Nach dem gescheiterten Putsch vom Juli 2016 befinden sich nach Angaben der Frankfurter Allgemeinen Zeitung über 62.000 Menschen in Haft. Mehr als 130.000 hatten eine Zeit in Untersuchungshaft verbracht, über 146.000 Menschen wurden aus dem Öffentlichen Dienst entlassen. Knapp über 300 Journalisten wurden festgenommen.

Damit hat die türkische Regierung ein starkes innenpolitisches Signal gesetzt, sagt Roy Karadag. "Die meisten Journalisten, die sich noch überlegen, kritisch zu berichten, haben die Botschaft verstanden. Die entsprechenden Grenzen bei der Berichterstattung dürften sie in Zukunft wohl einhalten. Dass heißt nicht, dass es dann keine Journalisten mehr gibt. Aber die Regeln, unter denen sie berichten, stehen fest. "

Entspannungsbemühungen nach außen, eindeutige und als solche auch verstandene Botschaften nach innen, in Richtung einer massiv eingeschüchterten Gesellschaft: In einer solchen Situation kann die Türkei durch Haftentlassungen und  Ausreisegenehmigungen sich in ein günstiges Licht setzen, sagt Karadag. "Man signalisiert, dass diese Verfahren nach rechtstaatlichen Prinzipien verlaufen. Damit will man ihre Legitimität demonstrieren und die Annahme widerlegen, es handle sich um politisch motivierte Prozesse." So verstanden, könnten die jüngsten Urteile auch ein Versuch sein, den arg ramponierten Ruf der Türkei als Rechtsstaat wiederherzustellen. Mit welchem Ergebnis, ist offen.

Journalist Deniz Yücel
Weiterhin ohne anklage in türkischer Haft: der Journalist Deniz YücelBild: picture-alliance/Eventpress/Stauffenberg

Kein grundsätzlicher Richtungswechsel

Ebenso offen ist, inwieweit die deutsch-türkischen Verhandlungen das Urteil womöglich beeinflusst haben. Tatsache ist, dass es in den letzten Wochen keine öffentlichen Auseinandersetzungen zwischen beiden Staaten gegeben hat. Zu einer Normalisierung des Verhältnisses dürfte es aber noch ein weiter Weg sein. Zwar hat Bundesaußenminister Sigmar Gabriel (SPD) die Freilassung der deutschen Journalistin und Übersetzerin Mesale Tolu begrüßt. Er erklärte aber auch, dies sei "ein erster großer Schritt". Nun brauche es aber endgültig ein Urteil, damit sie das Land verlassen könne. Und mit Blick auf den weiterhin inhaftierten "Welt"-Korrespondenten Deniz Yücel sagte Gabriel, es gehe darum, "dass wir endlich eine Anklageschrift sehen, damit die Verfahren losgehen können."

Mit dem Urteil hat die Türkei keinen grundsätzlichen politischen Richtungswechsel vollzogen, vermutet Roy Karadag. "Eher ist es ein diplomatischer Richtungswechsel - aber auch nur, weil die europäischen Akteure und Deutschland anerkennen, dass man sich nicht mehr so stark in türkische Belange einmischt. Das hat die harte, autoritäre Politik Erdogans erreicht."

DW Kommentarbild | Autor Kersten Knipp
Kersten Knipp Politikredakteur mit Schwerpunkt Naher Osten und Nordafrika