Nachtschicht mit Ruslana auf dem Maidan
14. Dezember 2013Freitag, 13.12.2013
21.09 Uhr, Chreschtschatik
Die Spannung steigt. Nach Tagen relativer Ruhe scheint die Gefahr einer gewaltsamen Auflösung der Proteste auf dem Maidan Nesaleschnosti (Unabhängigkeitsplatz) wieder groß. Tausende Anhänger des Präsidenten Viktor Janukowitsch aus dem Osten und Süden der Ukraine sind mit Zügen und Bussen nach Kiew gekommen. Sie marschierten in rieseigen Kolonnen in der Nähe des Regierungsviertels. Am Abend hatten ukrainische Medien über Polizeikräfte berichtet, die sich in der Innenstadt versammeln.
21.50 Uhr, Haus der Gewerkschaften, Maidan
Der selbst ernannte "Stab des nationalen Widerstands" erinnert an ein Bienenhaus. Menschen strömen hinein und hinaus. Man muss dreimal den Presseausweis zeigen, um hereinzukommen. Viele Männer in Tarnuniformen. Es sind Veteranen des sowjetischen Afghanistan-Krieges. An jeder Ecke gibt es kostenlos belegte Brötchen, Kaffe, Tee und Wasser. Das Pressezentrum im 1. Stock ist leer. Nur ein paar Journalisten sitzen an ihren Laptops.
Um 22.15 Uhr tauscht zum ersten Mal Ruslana auf. Die Eurovision-Siegerin aus dem Jahr 2003 macht seit Tagen Nachtschichten auf dem Maidan. Als die Polizei in der Nacht auf Mittwoch (11.12.2013) versucht hatte, den Platz zu räumen, rief Ruslana die Kiewer auf, in die Stadtmitte zu kommen. Tausende folgten ihrem Ruf und der Maidan konnte gehalten werden.
An diesem Abend trägt sie schwarze Turnschuhe, graue Jeans und Pulli, sowie eine kurze schwarze Lederjacke. Sie verschwindet schnell und sagt im Vorbeigehen den Ordnern am Eingang: "Ihr seid die Einzige Hoffnung."
22.35 Uhr, Maidan
Der Unabhängigkeitsplatz ist voll. Es sind ca. 10.000 Menschen: junge, alte, Männer, Frauen. Die Stimmung ist leicht angespannt, man erwartet Provokationen oder einen Räumungsversuch der Polizei. Es herrschen Temperaturen um die Null Grad, kein Schnee fällt vom Himmel. Viele Menschen wärmen sich am offenen Feuer in Blechtonnen. Junge Frauen und Mädchen bieten belegte Brötchen an. Es ist erstaunlich, wie gut der Maidan organisiert ist. Das Ganze erinnert an ein ukrainisches Kosakenlager aus dem 17. Jahrhundert: Barrikaden, Zelten, Feuer, Rauch, Musik.
Samstag, 14.12.2013
00.02 Uhr, Maidan
Ruslanas Schicht beginnt. Auf der Bühne wird die ukrainische Nationalhymne gesungen. Ruslana singt mit, die rechte Hand am Herzen. Dann wird gebeten. Mehrere Priester stehen auf der Bühne. Das Prozedere wird sich von nun an zu jeder vollen Stunde wiederholen.
Der neue Tag beginnt mit der Rede von Juri Luzenko, dem ehemaligen Innenminister in der Regierung Timoschenko. Luzenko wurde im April 2013 vom Präsidenten Janukowitsch begnadigt, nachdem er mehr als zwei Jahre im Gefängnis verbracht hatte. Sein Fall gilt im Westen, wie auch der Fall Timoschenko, als Beispiel selektiver Justiz. Luzenko beschwört die Revolution und bekommt viele Applaus. Er beendet seine Rede mit dem Schlachtruf des Maidan: "Ruhm der Ukraine". Die Menge antwortet: "Ruhm den Helden". Das ist ein Gruß ukrainischer Nationalisten in der Westukraine aus der Mitte des 20. Jahrhunderts, die gegen die Sowjetunion gekämpft hatten.
Es sind jetzt deutlich weniger Menschen da als noch vor einigen Stunden. Im hinteren Teil des Platzes sind die Straßen nicht verbarrikadiert, sodass Autos vorbeifahren können. Es kommt ein Müllwagen, um die großen Mengen von Müllsäcken abzuholen, die am Tag gesammelt wurden.
Ruslana steht die ganze Zeit auf der Bühne und spricht immer wieder zu der Menge. "Maidan!" schreit sie. "Wir wind da", antworten die Menschen im Chor. Ruslana wendet sich an die anwesenden Männer. Sie sollen bereit sein, den Platz bei einem möglichen Angriff durch Polizei zu verteidigen.
01.36 Uhr, Maidan
Auf der Bühne singen und tanzen junge Mädchen zu Volksliedern. Sie tragen rosa Blumenkränze. Ruslana hüpft und singt mit. Die Menge schwingt blau-gelbe Nationalfahnen der Ukraine. Der Profiboxer Wladimir Klitschko ist dazu gekommen und klatscht in die Hände. Dann nimmt er das Mikro. "Wir haben ein tolles Land, wir werden bis zum Sieg hier stehen", sagt Klitschko und schüttelt eine geballte Faust.
02.30 Uhr, Maidan
Ruslana hat sich zu einer echten Gastgeberin des Maidans warm gesprochen. Sie liest SMS vor. Eine Autokolonne sei aus Ternopil in Westukraine nach Kiew aufgebrochen, um die Regierungsgegner auf dem Maidan zu unterstützen. Es gibt Applaus.
Kurz vor 3.00 Uhr nachts singen zwei Frauen ein Lied mit dem Titel "Vitja, Ciao". Gemeint ist der ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch. "Weder Russlands Präsident Putin, noch deine gekauften Staatsanwälte werden dir helfen", heißt es diesem Lied. Die Menschen auf dem Maidan tanzen und singen. Das könnte ein Schlager werden.
04.10 Uhr, Maidan
Ruslana gibt ihr Bestes. Sie erzählt Witze, tanzt und motivierte die Menschen mitzumachen. "Ich möchte nicht, dass ihr friert", sagt sie. Maidan bei Nacht ist eine Ruslana-Show.
Dabei ist die Stimmung alles andere als entspannt. Je später die Nacht wird, desto nervöser werden die selbst organisierten Sicherheitskräfte. Die Angst vor einem Polizeieinsatz hat einen Höhepunkt erreicht. Jeder, der durch die Barrikaden passiert, wird misstrauisch beobachtet. Betrunkene werden nicht hereingelassen. Auf dem ganzen Maidan, auf dem jetzt höchstens 5000 Menschen übernachten, herrscht absolutes Alkoholverbot. Die Menschen trinken nur Kaffe und Tee.
7.42 Uhr, Maidan
Die Sonne ist aufgegangen. Ruslana verabschiedet sich. Die Menge will sie nicht gehen lassen. Ruslana! Ruslana! Sie hat diese Nacht praktisch im Alleingang gestemmt. Die Polizei kam nicht. Alles blieb ruhig. "Ihr müsst lächeln", sagt Ruslana bevor sie geht. Sie lächelt selbst. Aus den Lautsprechern tönt ein Lied von Michael Jackson. Neue Demonstranten strömen auf den Maidan. Schichtwechsel.