Scholz: "Niemand muss sich fürchten"
22. September 2021Er wird gefeiert. Ein Selfie mit dem SPD-Kanzlerkandidaten - dafür hat sich in der niedersächsischen Kleinstadt Soltau eine lange Schlange gebildet: Alte, Junge, Mütter mit Kindern, der SPD-Nachwuchs mit Parteibuch, in das Olaf Scholz ein Autogramm schreiben soll. Wer dran ist, reicht sein Handy rüber und beugt sich so weit zu Scholz hinüber, wie es das Absperrgitter zulässt, das den 63-Jährigen vom Wahlvolk trennt.
"Wie geht's?", fragt der Kandidat, plaudert ein wenig und lächelt entspannt in die Kameralinsen. Er ist präsent und zugewandt, obwohl es in Soltau bereits die dritte Wahlkampfveranstaltung an diesem Tag ist und nicht die letzte. Das Programm läuft überall ähnlich ab. Eine gute halbe Stunde freie Rede auf einer Bühne, danach Antworten auf Fragen aus dem Publikum. Zwischen den Terminen gibt Scholz Interviews, auch zugeschaltet in bundesweite Nachrichtensendungen.
Schwarzer Kaffee und kein Alkohol
Es sei unfassbar, wie fit "der Olaf" nach dem kräftezehrenden Wahlkampf noch sei, sagt SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil, der in Soltau als Direktkandidat für den Bundestag antritt und mit Scholz ein paar Schritte durch die Stadt läuft. "Man hat das Gefühl, der könnte mit diesem Kraftakt jetzt noch drei Monate weitermachen."
Doch es sind nicht die vielen Tassen Kaffee und der Verzicht auf Alkohol, es ist die Aussicht auf einen zum Greifen nahen Wahlsieg, die Scholz offensichtlich beflügelt. Wenn er irgendwo sitzt oder steht und mal nichts sagen muss, hat der sonst so nüchtern und emotionslos wirkende Politiker ein Lächeln im Gesicht. "Mein Gefühl sagt, dass die Lage noch besser als in den Umfragen für die SPD ist", meint der Kanzlerkandidat.
Eine historische Chance
Er weiß, wie es sein kann, wenn man eine Wahl gewinnt. "Das fühlt sich für mich so an wie 2011, als ich in Hamburg zum ersten Mal als Bürgermeister kandidiert habe." Die Dynamik erinnere ihn auch an 1998. Bei der damaligen Bundestagswahl schickte die SPD die Union in die Opposition, und Gerhard Schröder wurde Bundeskanzler.
Nur dreimal in der Geschichte der Bundesrepublik lag die SPD vor einer Bundestagswahl in den Umfragen vorne: 1972, 1998 und 2002. 2021 ist es nun erneut so weit, Klingbeil spricht von einer "historischen Chance" für die Partei. Es sei jeden Tag erneut "beeindruckend zu sehen, was für eine Stimmung herrscht", ergänzt Scholz. "Die Menschen sind fröhlich und das ist wirklich ein Aufbruch, der da spürbar ist." Das sehe er in den Gesichtern derer, "die mir zuhören".
Keine Pfiffe, keine Buhrufe
In Soltau sind es rund 500 Zuschauer, ähnlich wie in der Kleinstadt Lehrte drei Stunden zuvor. Viele von ihnen haben bereits per Briefwahl für die SPD gestimmt und sind gekommen, um den Mann zu sehen, den sie sich als zukünftigen Bundeskanzler wünschen. Sie klatschen und jubeln ihm zu. Pfiffe oder Buhrufe sind nicht zu hören - Störer sucht man, abgesehen von zwei Klimaaktivisten, die in Soltau lautstark auf sich aufmerksam machen wollen, vergebens.
Als sie keine Ruhe geben, werden sie von Ordnern abgedrängt. Scholz reagiert, indem er das Thema wechselt und auf die in Berlin seit Tagen hungerstreikenden Klimaaktivisten zu sprechen kommt. Sie sollten ihre Aktion beenden, ein Hungerstreik sei nicht der richtige Weg, um mit dem Thema umzugehen.
Kein Problem ist unlösbar
Ob Klimaschutz, Modernisierung der Wirtschaft, Corona-Kosten oder Rentensystem - Scholz lässt bei seinen Reden keinen Zweifel daran, dass Deutschland vor enormen Herausforderungen steht. Stets aber verbindet er damit die Botschaft, dass egal was kommt, eine von der SPD geführte Regierung die Aufgaben bewältigen könne.
"Wie kommt man sicher durch die Zeit? Wie kann man alles, was an Veränderungen stattfindet, hinbekommen? Wie kann man vertrauen, dass das gut läuft?", fragt er und gibt gleich die passende Antwort: "Gebt uns Eure Stimmen, dann kann ich eine Regierung formen, die so wird, wie wir es versprochen haben: Pragmatisch, aber der Zukunft zugewandt."
Die Finanzskandale sind Vergangenheit
"Er hat so eine ruhige, bestimmte Art", sagt in Lehrte Dirk Hempel, der zusammen mit seiner Frau gekommen ist, um Scholz zuzuhören. "Wir brauchen für die nächsten Jahre jemanden, auf den man sich verlassen kann, der das Land durch schwierige Zeiten führen kann."
Finanzskandale wie Wirecard und Cum-Ex, bei denen Scholz als Bundesfinanzminister keine gute Figur gemacht hat, oder auch die kürzlich erfolgte Durchsuchung des Bundesfinanzministeriums im Zusammenhang mit Ermittlungen gegen die Anti-Geldwäsche-Behörde FIU scheinen bei den SPD-Anhängern kaum eine Rolle zu spielen. "Jeder Politiker hat doch irgendwie Dreck am Stecken" sagt eine Frau.
Viele haben ihre eigenen Probleme
Cornelia ist mit ihrer Freundin Irmtraud in Lehrte unterwegs und stehengeblieben, um Olaf Scholz eine Weile zuzuhören. "Als Bundesfinanzminister hat er bestimmt zu viele Sachen gehabt, um die er sich gleichzeitig kümmern musste", sagt Irmtraud. Das könne nicht funktionieren. "Das ist doch wie zuhause, da machen sie auch nicht gleichzeitig das Wohnzimmer und die Küche sauber."
Auch für Angelika Weidner spielen die Finanzskandale keine Rolle. "Das ist so kompliziert alles, da mache ich meistens den Fernseher aus, wenn darüber berichtet wird." Sie ist am Rand der Veranstaltung mit ihrem Fahrrad stehen geblieben und hört interessiert zu, als Scholz über steigende Preise und Mieten spricht. "Es wird alles immer teurer", sagt sie. Es sei gut, wenn etwas dagegen getan werde.
Mit wem will die SPD regieren?
Eine Frau, die keinen Namen nennen will, erzählt, dass sie bereits per Briefwahl abgestimmt und zum ersten Mal in ihrem Leben die SPD gewählt hat. "Ich habe immer CDU gewählt, aber den Armin Laschet finde ich nicht gut." Sie würde aber "ganz stark hoffen", dass die SPD nicht mit der Linkspartei koalieren würde, das wolle sie auf keinen Fall.
Wer nach der Wahl mit wem regieren könnte - das beschäftigt tatsächlich viele Zuschauer. Das wird in den Fragerunden deutlich, die sich an die Wahlkampfreden anschließen. Mit den Grünen, das können sich viele vorstellen, aber die Linkspartei? Da gibt es erhebliche Vorbehalte. Olaf Scholz weicht der Frage danach, ob er mit der Linkspartei koalieren würde, seit Wochen aus. Auch in Lehrte und Soltau. "Ich will eine Koalition mit den Bürgerinnen und Bürgern eingehen", sagt er.
Nach der Wahl: Geschlossenheit oder neuer Streit?
Scholz ist kein Freund eines rot-grün-roten Bündnisses, soviel ist bekannt. Doch wie viel Macht wird er nach der Bundestagswahl in der SPD haben? Immerhin unterlag Scholz bei der Wahl der neuen SPD-Vorsitzenden im Herbst 2019 dem linken Duo Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans. Unterstützt wurden die beiden vom damaligen Juso-Chef Kevin Kühnert, der jetzt für den Bundestag kandidiert und SPD-Vize ist. Das linke Trio, so viel ist sicher, wird bei der Regierungsbildung ein erhebliches Mitspracherecht einfordern.
Wird die SPD die Geschlossenheit, mit der sie den Wahlkampf bestritten hat, unter diesen Umständen beibehalten können? Oder drohen wieder - wie schon so oft in der Geschichte der Partei - Streit und Selbstzerfleischung? Olaf Scholz hat auch diesbezüglich keine Zweifel. "Die SPD hat die Erfahrung gemacht, dass wir erfolgreich damit sind, wie wir jetzt hier auftreten, dass wir so sein wollen und so sein können. Diese Erfahrung wird sie nicht vergessen."