NSU-Mordserie: Auch die Medien versagten
9. September 2020Elf Jahre stocherte die Polizei im Nebel: Warum wurde Enver Şimşek am 9. September 2000 niedergeschossen und starb zwei Tage später? Warum musste Abdurrahim Özüdoğru am 13. Juni 2001 sterben? Warum Süleyman Taşköprü am 27. Juni 2001? Erschossen mit derselben Waffe. Sechs weitere Männer mit türkischen und griechischen Wurzeln wurden bis 2006 auf die stets gleiche Weise ermordet. Einen rassistischen Hintergrund vermutete trotzdem so gut wie niemand.
Auch in den Medien waren fast alle auf dem rechten Auge blind. Bis zum 4. November 2011, als sich die Terrorgruppe "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) selbst enttarnte und in einem makaberen Video ihrer Mord-Serie rühmte. Groß war danach das Erschrecken in den Reihen der Sicherheitsbehörden und der Presse – über das eigene Versagen. Wie konnte es passieren, die Täter über einen so langen Zeitraum so gut wie ausschließlich im familiären Umfeld der Opfer und der Organisierten Kriminalität zu suchen?
Die unrühmliche Rolle der Polizei und des Verfassungsschutzes analysierten mehrere Parlamentarische Untersuchungsausschüsse. Den Blick auf die Medien schärfte die Otto-Brenner-Stiftung mit ihrer 2015 veröffentlichten Studie zur Berichterstattung über die NSU-Morde. Der Befund war verheerend: "Die Medien waren den Mutmaßungen der Polizei bis auf ein paar Ausnahmen geradezu unkritisch gefolgt", erinnert Mitautorin Elke Grittmann 20 Jahre nach dem ersten NSU-Mord im DW-Gespräch an die überwiegend unreflektierte Arbeit der Presse.
Ein besonders hässliches Sprachbild: "Döner-Morde"
Demnach haben die meisten die von der Polizei vorgegeben Spekulationen, "die immer in Richtung Kriminalität und Kriminalisierung der Opfer selbst gingen, mit weiterverbreitet". Stilprägend wurde das Wort "Döner-Mord". Damit versuchten Boulevard-Zeitungen ebenso wie sogenannte Qualitätsmedien jahrelang das schwer Fass- und Erklärbare auf einen simplen Nenner zu bringen. Tatsächlich arbeiteten nur zwei NSU-Opfer in einem Imbiss, in dem auch Döner verkauft wurden. Durch die Verallgemeinerung "wurde den Ermordeten die Individualität genommen", heißt es in der Studie.
So flächendeckend unsensibel und diskriminierend wie über die lange rätselhafte NSU-Mordserie wird heutzutage nicht mehr berichtet, wenn es einen mutmaßlich oder gar offensichtlich rassistischen Tathintergrund gibt. "Es gibt eine kritischere Orientierung, eine kritischere Befragung der Arbeit der Polizei", sagt die Medienwissenschaftlerin Elke Grittmann von der Hochschule Magdeburg-Stendal im Bundesland Sachsen-Anhalt.
Fortschritte lassen sich aktuell auch im Prozess gegen den mutmaßlichen Attentäter von Halle beobachten. Dort wollte der mutmaßliche Täter im Oktober 2019 in der Synagoge ein Massaker verüben. In den Berichten werde auch danach gefragt, "wie die Polizei mit den Opfern umgegangen ist". Davon konnte im Zusammenhang mit den NSU-Morden lange keine Rede sein. Das hat die Professorin für Medien und Gesellschaft am Institut für Journalismus in der von ihr mitverfassten Studie zur Berichterstattung über die NSU-Mordserie akribisch dargelegt.
Eine positive Entwicklung hat auch Tanjev Schultz registriert. Als Redakteur der "Süddeutschen Zeitung" hat er auch über den NSU-Prozess berichtet, seit 2016 lehrt er an der Universität Mainz in Rheinland-Pfalz Journalismus. Nach seinem Eindruck bemühen sich viele Redaktionen, es besser zu machen als damals beim NSU, sagt er der Deutschen Welle: "Mehr auf die Betroffenen hören, Angaben von Behörden kritischer betrachten und tiefer in die rechtsextreme Szene hineinleuchten." Gewachsen sei auch die Sensibilität für Namen und Schreibweisen, "die nicht klassisch deutsch sind".
Nach dem Attentat von Hanau ist von "Shisha-Morden" die Rede
Rückschläge gebe es aber auch immer wieder, bedauert Tanjev Schultz, der 2018 ein Buch über das Staatsversagen beim NSU publiziert hat. Als Beispiel für den Rückfall in alte Muster nennt er das ebenfalls rassistisch motivierte Attentat in Hanau mit neun Toten. Anschließend erschoss der Täter seine Mutter und sich selbst. Von "Shisha-Morden" sei zu lesen gewesen, kritisiert der Medienwissenschaftler die vereinfachende Wortwahl, mit der auf einen von mehreren Tatorten angespielt wird: eine Shisha-Bar. Glücklicherweise, ergänzt Schultz, rege sich schnell Protest gegen solche Schlagzeilen.
Seine Kollegin Elke Grittmann von der Hochschule Magdeburg-Stendal spricht von "Dehumanisierung der Opfer", wenn Begriffe wie "Döner-Morde" die Berichterstattung beherrschen. "Die Idee, dass die Täter aus dem Umfeld der Opfer kommen, wurde in dem Begriff mit suggeriert." Ähnliches gilt ihres Erachtens für Formulierungen wie "Parallelgesellschaften" oder "Mauer des Schweigens", als die Ermittlungen über die NSU-Morde auf der Stelle traten.
Die gute Nachricht: Es gibt eine größere Empathie für die Betroffenen
Aber so wie Tanjev Schultz attestiert auch Elke Grittmann den Medien, aus ihrem Versagen gelernt zu haben. Als Beleg verweist sie nochmals auf die aktuelle Berichterstattung über den Prozess gegen den mutmaßlichen Attentäter von Halle. Da sehe man, "dass auch die Betroffenen, die Angehörigen als Handelnde, als Sprechende eine Sichtbarkeit erhalten". Es gebe eine "größere Empathie" als bei der Berichterstattung über die NSU-Morde.