Pflege-Betrug in Milliardenhöhe
19. April 2016Deutschlands Bevölkerung wird zunehmend älter, und in dem wachsenden Markt für Gesundheits- und Pflegedienstleistungen mangelt es an geschultem Personal. Seit einigen Jahren wirken Pflegekräfte aus Osteuropa diesem Engpass entgegen: Sie sind stationär oder mobil im Einsatz - doch Letzteres wird kaum kontrolliert. Ein gefundenes Fressen für organisierte Kriminelle.
Laut Medienberichten verlieren die Kassen jährlich Gelder in Milliardehöhe wegen Rechnungsbetrugs von fragwürdigen mobilen Pflegediensten aus Russland. Einige Fälle führen bis an die Wurzeln der organisierten Kriminalität des Landes. Ihr Ziel ist so hilfsbedürftig wie lukrativ: intensive Pflegefälle, deren Behandlungen tausende Euro kosten; pro Patient können auf diese Weise bis zu 15.000 Euro im Monat abgezweigt werden.
Überwachungslücken im System
Die Kontrolle bei der häuslichen Pflege wird durch die duale Regelung erschwert: In Deutschlang gibt es bekanntermaßen neben der allgemeinen Kranken- noch eine Pflegeversicherung. "Das System macht es Kriminellen einfach", sagt Eugen Brysch, Vorsitzender der Deutschen Stiftung für Patienten-Schutz. "Was häusliche Pflegedienste anbelangt, tauschen sich die beiden Versicherungen überhaupt nicht aus." Bei mobiler Pflege werde die Langzeitbetreuung eines Patienten für gewöhnlich kontrolliert. Doch bei Krankenkassen-Aspekten sehe es ganz anders aus. Genau da setzen die Betrüger an. "Diese Entwicklung ist nicht neu. Die Bundesländer haben ihr Überwachungsmaß seit einigen Jahren auf ein Minimum reduziert."
So funktioniert es
Der Ablauf ist recht simpel: Anstatt einen Patienten rund um die Uhr zu betreuen, kommt eine Hilfskraft beispielsweise nur ein paar Mal am Tag vorbei. Zudem werden Leistungen in Rechnung gestellt, die nie erbracht wurden. In einigen Fällen sind sogar die Familien der betroffenen Patienten involviert. Die Pflegemafia ködert sie mit einem Teil des Gewinns. Solche Art von Betrug gibt es in ganz Deutschland, am meisten jedoch in Berlin, Sachsen und Bayern.
Kriminelle Organisationen suchen sich bewusst Patienten aus, bei denen der Betrug einfach umzusetzen ist, sagt AOK-Bayern-Bereichsleiter Dominik Schirmer. Es handele sich um jahrelange Abzocke mit System. Schirmer ist für eine strengere Kontrolle: Krankenversicherungen sollten die notwendigen Befugnisse bekommen, um auch mobile Pflegeleistungen überprüfen zu können. Auch Gernot Kiefer, Vorstand des GKV-Spitzenverbandes,meint, dass die Krankenversicherungsunternehmen berechtigt sein sollten, statt den angemeldeten Routinebesuchern alle sechs Monate, spontane Kontrollbesuche durchzuführen. Nur so könne man den Betrügern auf die Schliche kommen.
Grenzen der unangemeldeten Kontrolle
Die Umsetzung sei aber nicht so einfach, sagte der Pflegebeauftragte der Bundesregierung, Karl-Josef Laumann (CDU), heute im Interview mit dem Deutschlandfunk. Der Staat habe bekanntermaßen enge Grenzen, um in Wohnungen zu gehen. Daher gäbe es ein grundsätzliches Problem im Zusammenhang mit der Privatsphäre. Dennoch räumte er ein, es sei deutlich geworden, dass auch die Krankenkassen in Einzelfällen von Kontrollmöglichkeiten profitieren würden: "Wenn es bei der Pflegeversicherung geht, kann man es ja auch in der häuslichen Krankenpflege machen." Um den Betrug in Zukunft zu vermeiden, plädierte Laumann für stärkere Überwachung von Seiten der Kranken- und Pflegekassen und eine knallharte Strafverfolgung.
Auf Kosten des Sozialstaates
Laut einem vertraulichen Bericht des Bundeskriminalamts (BKA),über dasder Bayerische Rundfunk und die Welt am Sonntag informierten, handelt es sich bei dem Krankenversicherungsbetrug von russischen Pflegediensten um ein bundesweites Phänomen, das vor allem bei Gruppen auftritt, die unter Sprachbarrieren leiden. Das Bundeskriminalamt hat das nicht kommentiert, ein Sprecher räumte aber ein, dass insbesondere bei den kommunalen Sozialhilfeträgern sowie den gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen - also letztlich der Allgemeinheit - beträchtliche finanzielle Schäden entstünden. Die Ermittlungen laufen noch.