Politik zwischen Wahlkampf und Mitgefühl
23. Juli 2021Angela Merkel zwischen Trümmern. Die Bundeskanzlerin lässt sich durch die von der Flut zerstörte historische Altstadt von Bad Münstereifel führen. Sie nimmt sich Zeit, ist merklich angefasst. Das vermitteln die Fernsehbilder, die viele Kanäle live senden.
Die einstmals idyllische Stadt in Nordrhein-Westfalen sei "so schwer getroffen, dass es einem wirklich die Sprache verschlägt", sagt die Bundeskanzlerin den Einwohnern.
Bevor die Noch-Bundeskanzlerin wieder abreist, versichert sie der Bürgermeisterin, dass sie bald noch einmal vorbeischauen wolle - auch wenn sie dann nicht mehr Amt sei.
Solche Besuche in Katastrophengebieten, sagt die Politikwissenschaftlerin Ursula Münch der DW, seien für Politiker immer "Gratwanderungen". "Wenn man sie nicht unternimmt und in einer Regierungsposition ist, dann wird einem mangelndes Interesse und mangelnde Empathie vorgeworfen", erläutert die Direktorin der Akademie für Politische Bildung Tutzing. Auf der anderen Seite stehe aber auch sehr schnell der Vorwurf im Raum, "dass es nur um den Wahlkampf geht". Angela Merkel kann man das nicht vorwerfen. Sie steht nämlich gar nicht mehr zu Wahl.
Chance für die Regierenden
Alle waren sie da, in den Hochwassergebieten von Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen: der Bundespräsident, die Kanzlerin, die drei Bewerber um ihre Nachfolge, Minister, Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten. Krisen gelten als die Stunde der Macher, der Machthaber, der Exekutive.
Die Kanzlerkandidatin der Grünen, Annalena Baerbock, hat - neben einem Fehlstart in den Wahlkampf - einen großen Nachteil: Sie hat und hatte kein Regierungsamt wie ihre Herausforderer Armin Laschet (CDU) oder Olaf Scholz (SPD), die die Krisengebiete im Medientrubel besucht haben. In solchen Krisenmomenten hätten regierende Parteien klar "einen institutionellen Bonus", sagt der Politikwissenschaftler Gero Neugebauer der DW. "Die, die als Amtsträger auftreten, genießen einen Vorteil", ergänzt er. Auch Baerbock reiste ins Flutkatastrophengebiet; Bilder davon gibt es aber nicht. Baerbock blieb bei ihrem Besuch auf eigenen Wunsch vollkommen von der Öffentlichkeit abgeschirmt.
Wer kann Krise?
Klarer Vorteil also für Armin Laschet, den mächtigen CDU-Vorsitzenden und Ministerpräsidenten im Flutland Nordrhein-Westfalen? Oder liegt doch Olaf Scholz vorn beim Krisenmanagement und der öffentlichen Wahrnehmung? Scholz ist Kanzlerkandidat der SPD und als Finanzminister für die Finanzierung des Wiederaufbaus mitverantwortlich. Er verteilt zig Millionen für die Fluthilfe.
Weit gefehlt. Der SPIEGEL hat das Meinungsforschungsinstitut Civey beauftragt, genau nachzufragen. Wer würde sich als Kanzler oder Kanzlerin am entschiedensten für die Bewältigung des Klimawandels einsetzen? Weit abgeschlagen landet CDU-Chef und Kanzlerkandidat Armin Laschet bei nur 26 Prozent. Es folgt Kanzlerkandidat und Finanzminister Olaf Scholz (SPD) mit 35 Prozent. Spitzenreiterin ist Kanzleramtskandidatin Annalena Baerbock von den Grünen. Ihr schreiben in der Umfrage 56 Prozent der Befragten die höchste Kompetenz im Kampf gegen den Klimawandel zu.
Nicht überraschend sei das, sagen sowohl Politikwissenschaftlerin Ursula Münch als auch ihr Kollege Gero Neugebauer von der Freien Universität Berlin. Der Wissenschaftler macht auf eine deutsche Besonderheit aufmerksam. "Wir wählen Parteien und nicht Personen." Annalena Baerbock repräsentiere die Partei, die "regelmäßig auf Platz eins steht, wenn man fragt, welche Partei die größte Kompetenz darin hat, das Klimaproblem zu lösen". Das Thema Klimapolitik sei "genuin" das Thema der Grünen, ergänzt Politikwissenschaftlerin Ursula Münch; da hätte sich die Partei nicht schnell mal ein "Mäntelchen umgehängt".
Der Laschet-Lapsus
Dass der CDU-Vorsitzende und Kanzlerkandidat der Union, Armin Laschet so weit abgeschlagen ist, könnte auch an einem Fauxpas am vergangenen Samstag liegen. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ist zu Besuch im Hochwassergebiet von Erftstadt bei Köln. Zerstörung, Fassungslosigkeit, Trauer und Worte der Anteilnahme vom Bundespräsidenten.
Im Hintergrund steht Ministerpräsident Armin Laschet in einer Gruppe von Vertrauten. Er lacht, während das Staatsoberhaupt bewegt seine persönliche Betroffenheit zum Ausdruck bringt.
Später entschuldigt sich Laschet für sein Verhalten.
Politikwissenschaftlerin Ursula Münch sagt, Laschet hätte damit rechnen müssen, dass diese Bilder an die Öffentlichkeit kommen; allein schon wegen der "Dauerbeobachtung durch Handykameras", die allgegenwärtig seien. Laschet habe sich "nicht adäquat verhalten".
Wähler vergessen schnell
Die Bilder der verheerenden Flutkatastrophe werden bleiben und auch bis zum Wahltag am 26.September werden die Trümmer nicht weggeräumt sein. Aber wirken diese Bilder wirklich so lang nach; beeinflussen das Wahlverhalten? Einmütigkeit bei den Wahlforschern: nein. "Ich denke nicht, dass das die Wahlentscheidungen weitgehend beeinflussen wird", sagt Gero Neugebauer. Und Forscherin Ursula Münch verweist darauf, dass es ja noch mehr als zwei Monate bis zur Wahl seien, und die Deutschen in einer "Stimmungsdemokratie" lebten: "Wir vergessen alles sehr schnell!"