Bolivien droht eine Zeit der Instabilität
18. Oktober 2020Zum ersten Mal seit 18 Jahren steht Evo Morales Name nicht auf dem Wahlzettel - aber dennoch dreht sich auch der kommende Urnengang in Bolivien wieder um ihn. Am 18. Oktober werden in Bolivien Präsident, Vizepräsident sowie das Parlament neu gewählt. Und der ins argentinische Exil geflüchtete Ex-Präsident Morales schickt für die Bewegung zum Sozialismus (MAS) seinen Exminister Luis Arce, einen engen Vertrauten ins Rennen. "Sie haben uns mit vorgehaltener Pistole aus dem Amt gejagt, aber wir kommen wieder", versprach Arce zum Abschluss seiner Wahlkampagne in dieser Woche in Santa Cruz. Zwischen 30 und 40 Prozent der Wähler wünschen sich laut Umfragen offenbar nichts sehnlicher als das.
Vor allem Indigene, Bauern und städtische Arme erhoffen sich von der MAS, dass Bolivien die Corona-Krise hinter sich lassen und an die wirtschaftlich erfolgreichen Jahre des Sozialismus anknüpfen kann. Doch mindestens genauso vielen Bolivianern graut vor der Vorstellung, denn für sie ist Evo Morales in den letzten Jahren in einen Autoritarismus und in die Vetternwirtschaft abgedriftet. Eine Rückkehr des Kokabauern wollen sie um jeden Preis verhindern. "Gewinnt die MAS, wird es keine Gnade für die Opposition geben", befürchtet der oppositionelle Ex-Parlamentarier und Universitätsprofessor Alejandro Colanzi im Gespräch mit der DW.
Bolivien: Unruhen am Horizont
Die politische Lage in Bolivien ist seit der umstrittenen Präsidentenwahl vor einem Jahr äußerst angespannt. Die Wahl soll eigentlich die Wogen glätten nach dem aufreibenden Nachwahlkonflikt, der das Andenland vor einem Jahr an den Rand eines Bürgerkriegs brachte. Der damalige Präsident Morales musste nach Manipulationsvorwürfen auf Druck des Militärs zurücktreten. Die Interimsregierung der konservativen Übergangspräsidentin Jeanine Áñez verschob die ursprünglich für Mai angesetzte Wahl wegen der Corona-Krise mehrfach.
Dass die Wahl Ruhe ins Land bringt, hält die Soziologin Maria Teresa Zegada jedoch für unwahrscheinlich. "Die MAS droht damit, ein für sie nachteiliges Ergebnis nicht anzuerkennen", sagte die Dozentin der Universität von Cochabamba der DW. "Gewinnt die Opposition, wird sie permanent mit dem Druck der von der MAS kontrollierten sozialen Bewegungen konfrontiert sein." Zegada hält eine Rückkehr zur permanenten Instabilität der 90er Jahre für möglich. Diese Aussicht schwebe wie ein "Damoklesschwert" über der Wahl.
Fehler einer zerstrittenen Opposition
Besonders Unternehmer fürchten sich vor möglichen Unruhen. "Gerade jetzt, in der Corona-Krise, brauchen wir Stabilität, Planungssicherheit und einen Staat, der ein Partner der Privatwirtschaft ist und sie nicht gängelt", sagte Pedro Colanzi, Vorsitzender des Außenhandelsinstituts mit Sitz in der Tieflandprovinz Santa Cruz, Dort leben 30 Prozent der Bevölkerung und ebenfalls dort werden 30 Prozent des Bruttoinlandsproduktes erwirtschaftet.
Die wirtschaftliche und politische Macht sind in Bolivien sowohl geografisch als auch personell getrennt. Das ist neben der ethnischen Spaltung zwischen Indigenen und Nicht-Indigene und der tiefen sozialen Kluft ein weiterer Faktor, der das Andenland so schwer regierbar macht.
"Mit der MAS droht uns Autoritarismus, aber auch die Opposition hat Fehler gemacht und eine große Chance verspielt", sagte Alejandro Colanzi, ehemaliger Abgeordneter der Partei Unidad Nacional. Mit Korruptionsskandalen, religiös-fundamentalistischen Gesten und rassistischen Äußerungen (zum Beispiel bezeichnete Jeanine Añez Indigene als "die Wilden") schürte die Gruppe um Interimspräsidentin Jeanine Añez bei vielen Bolivianern Befürchtungen, der alten Elite gehe es nicht um das Wohl des Landes, sondern um Pfründe, politische Abrechnung und das Abwürgen sozialer Errungenschaften.
Wirtschaftselite will Interessen durchsetzen
Bei der Wahl tritt die Opposition auch noch gespalten an: Der gemäßigte Universitätsprofessor Carlos Mesa, der in Umfragen bei rund 30 Prozent liegt, repräsentiert mit seinem Wahlbündnis Bürgergemeinschaft eine eher urbane, liberale Mittelschicht. Die erzkonservative unternehmerische Elite, die sich vor allem im industriellen Tiefland angesiedelt hat, setzt dagegen auf den jungen Rechtspopulisten Luis Fernando Camacho, der etwa 15 Prozent der Wählerstimmen auf sich vereint.
Dass Camacho nicht zugunsten Mesas aussteigt - wie viele Oppositionsanhänger das fordern - liegt nicht nur an persönlichen Animositäten, sondern ist Soziologin Zegada zufolge auch Kalkül: "Die Wirtschaftselite spekuliert darauf, im künftigen Parlament das Zünglein an der Waage zu sein und so ihre Interessen durchsetzen zu können."
"Arce ist nicht Morales"
Diese Spaltung könnte MAS-Präsidentschaftskandidat Luis Arce den Weg ebnen. In der ersten Runde würden laut Wahlrecht 40 Prozent und zehn Punkte Vorsprung vor dem Nächstplatzierten reichen, um das Amt zu übernehmen. Aus der Sicht des Politologen Diego von Vacano wäre das die beste Lösung für das Land: "Arce ist nicht Morales, sondern ein kosmopolitischer Technokrat und die einzige Garantie, dass das Land nicht in eine neoliberale Ära zurückfällt und beispielsweise die Lithium-Vorkommen privatisiert." Eine Stichwahl würde Arce derzeitigen Umfragen zufolge gegen eine geeinte Opposition verlieren.
Bolivianer in Sorge um die wirtschaftliche Zukunft
Egal, wie die Wahl ausgeht - das Regieren wird für den nächsten Staatschef kompliziert, sind sich die Analysten einig. "In der MAS gibt es einen Reformflügel, der Vizepräsident David Choquehuanca mehr zugeneigt ist als Arce und Morales, da sind Spannungen programmiert", warnt Zegada.
Roger Cortez, Sozialforscher, sieht auch wirtschaftliche Probleme am Horizont: "Das auf Staatskapitalismus und Ausbeutung der Bodenschätze basierende Wirtschaftsmodell der MAS ist erschöpft, die Pandemie wirft nun zusätzlich ein bis zwei Millionen Bolivianer in die Armut zurück", gab er zu bedenken. "Auch das auf Brandrodung und Gentechnik basierende Agroindustrie-Modell im Tiefland hat keine Zukunft."
Mesa spricht zwar von einem neuen Modell, worin das aber bestehen soll, ist unklar - und Mehrheiten dafür im Parlament zu beschaffen, dürfte alles andere als leicht werden. Entsprechend pessimistisch sehen die Bolivianer ihre Zukunft. Bei einer kürzlich von der Friedrich-Ebert-Stiftung durchgeführten Internet-Umfrage bei Multiplikatoren gaben 78 Prozent an, das Land sei auf einem schlechten Weg, 57 Prozent rechnen mit Gewalt rund um die Wahlen und 80 Prozent machen sich Sorgen um die Wirtschaft und steigende Armut.