"Verdachtsberichterstattung ist zulässig"
12. Juli 2017DW: "Gesucht! Wer kennt diese G20-Verbrecher?" Mit dieser Überschrift zeigte die "Bild"-Zeitung unverpixelte Fotos von Teilnehmern der G20-Proteste in Hamburg. Dazu liegen dem Deutschen Presserat mittlerweile mehrere Beschwerden vor. Manfred Protze, darf ein Medium vermeintliche Straftäter an den Pranger stellen?
Manfred Protze: Zunächst mal hat BILD über öffentliches Handeln von Personen in einem Kontext, einem Ereignishorizont berichtet, der absolut von öffentlichem Interesse war. Das sind nicht isolierte Personen mit isolierten Handlungen, sondern die stehen in einem Zusammenhang mit einem Gesamtereignis. Und man kann als Medium selbstverständlich über dieses Gesamtereignis berichten, wobei jeder, der dort teilnimmt, auch friedliche Demonstranten, in Kauf nehmen muss, dass er dort abgebildet wird.
Jetzt muss man schauen, ob Persönlichkeitsrechte der abgebildeten Personen verletzt sind, weil sie möglicherweise in einen negativen Zusammenhang gerückt wurden, in den sie nicht gehören, indem sie in unangemessener Weise hervorgehoben werden - was ja technisch möglich ist. Wenn so etwas passiert, genießen sie den Schutz des Pressekodex.
Was wir aber hier gesehen haben, ist etwas anderes: Hier geht es um kriminelles Handeln in aller Öffentlichkeit unter Missbrauch geschützter Meinungs- und Versammlungsfreiheit. An der Identifizierung der Täter und der strafrechtlichen Verfolgung besteht grundsätzlich immer ein öffentliches Interesse. Insofern: Wir haben das noch nicht abschließend geprüft, aber mit einem ersten Blick darauf könnte man zu dem Ergebnis kommen: Das war so weit gerechtfertigt durch die Vorgaben, die der Pressekodex macht. Dabei spielt eine Rolle: Wird eine schwere Straftat in aller Öffentlichkeit begangen? Dies ist nach unseren Regeln ein Kriterium, bei dem wir sagen: Da spricht in aller Regel etwas für das Recht der Presse, das auch zu veröffentlichen.
Macht sich eine Zeitung damit zum Erfüllungsgehilfen der Ermittlungsbehörden?
Die Presse ist ja nicht daran gehindert, die Ermittlungsbehörden bei der Verfolgung von Straftaten zu unterstützen. Das wird sie in aller Regel dann machen, wenn die Behörden sie um Unterstützung bitten. Da ist die Presse frei, dem nachzugeben und zu sagen: Ja, machen wir, indem wir zum Beispiel Fahndungsfotos veröffentlichen.
Das hier waren keine Fahndungsfotos, sondern journalistisch motivierte Fotos…
Genau. BILD hat die Gewalttäter - und es besteht kein vernünftiger Zweifel, dass es sich hier um Gewalttäter in action handelte - mit Foto veröffentlicht. Und BILD hat das kommentiert. Die Kommentierung und Bewertung ist eine ganz normale Tätigkeit der Medien.
Ist es nicht Sache von Gerichten, zu bewerten, ob hier strafrechtlich relevantes Verhalten vorliegt?
Keine Frage. Hier gibt es eine Form der Verdachtsberichterstattung, die aber wahrscheinlich zulässig ist. Wer im Rahmen einer solchen Demonstration zu einem Stein greift und ihn wirft, dem darf man unterstellen, dass er eine Straftat begehen will oder begeht. Worauf Sie hinweisen, ist in der Tat eine Frage der Sorgfalt. Jedes Medium, das ein solches Foto veröffentlicht, muss mit hinreichender Sorgfalt prüfen, dass es nicht gefälscht, sondern authentisch ist. Wir kennen die Quellen von BILD nicht. Wir wissen nicht, wie zuverlässig die Quelle ist. Sollte sich herausstellen, dass es sich um Fälschungen handelt, hat das Konsequenzen für das Medium.
Wie auch immer die Prüfung durch den Presserat ausgeht: Konsequenzen für die Abgebildeten hat es jetzt schon – unabhängig davon, ob ein Gericht später feststellt, ob er eine Straftat beging – oder BILD ihn zufällig in einer auslegbaren Situation fotografiert hat.
Wenn man im Kontext solcher Ereignisse wie in Hamburg mit einer Bierflasche oder Stein in Wurfposition fotografiert wird: das dann für einen Akt der illegalen Müllentsorgung zu halten, wäre doch sehr weit hergeholt.
Ist eine "Verdachtsberichterstattung", wie Sie es nennen, in einem Rechtsstaat wünschenswert? Sollten nicht Gerichte entscheiden, ob jemand Straftäter ist – und nicht ein Journalist oder eine Zeitung, die auf eine heiße Story aus ist, die sich gut verkaufen lässt?
Der Begriff Verdachtsberichterstattung ist so definiert, dass auf dem Hintergrund der Unschuldsvermutung solange jemand nur verdächtig ist, bis er von einem Gericht verurteilt ist. Aber zu Hamburg und BILD: Es hat dort kriminelle Taten gegeben. Es gibt das öffentliche Interesse, diese Kriminellen zu identifizieren und strafrechtlich zu verfolgen. Und wir haben zufällig Fotos von Menschen, von denen man annehmen kann, dass ihr Verhalten kriminell war. Das haben sie in aller Öffentlichkeit getan und auch vorsätzlich. Also man wirft nicht zufällig einen Stein oder eine Bierflasche. Dann müssen Sie hinnehmen, dass Sie in dieser Situation auch fotografiert werden und dass diese Fotos als Teil der Berichterstattung über das Gesamtereignis veröffentlicht werden.
…unter dem Titel "Gesucht: Wer kennt diese G-20-Verbrecher"?
Das ist die Kommentierung durch das Medium. Dass BILD das aufmacht wie ein Fahndungsplakat, ist eine besondere Form der Gestaltung. Ob die mit dem Pressekodex kollidiert, ist eine Frage, die die Beschwerdeausschüsse des Presserats abschließend beantworten müssen.
Wie erklären Sie sich das Vorgehen der BILD-Redaktion? Mit dem Meinungsdruck in den Sozialen Netzwerken? Dort wurde ja ebenfalls massenhaft zur Jagd auf vermeintliche Straftäter geblasen.
Ich frage nicht zuerst nach den Motiven der BILD-Redaktion. Ich halte mich streng an das Resultat, an die Veröffentlichung. Und ich muss es messen an den geltenden Regeln. Und da spielen die Motive zunächst mal keine Rolle. Und wenn es eine Rolle spielen sollte: Ein Medium könnte ja beispielsweise für sich geltend machen, mit einem Aufruf zur Ächtung von Gewalttätern, die die Versammlungsfreiheit missbrauchen, das Grundrecht auf friedliche Proteste zu verteidigen.
Lassen Sie uns über die Folgen reden: Journalisten wurden von Demonstranten tätlich angegriffen und verletzt. Gibt es ein Neutralitätsgebot für Journalisten - von dem die Glaubwürdigkeit der Medien abhängt?
Unter Neutralitätsgebot kann ich nur verstehen, dass das Berichten nicht beeinflusst ist von sachfremden Interessen und dass dies mit journalistischer Sorgfalt passiert. Das heißt etwa: Ich verzichte darauf, irgendwelche Ereignisse zu inszenieren oder auf ihren Ablauf Einfluss zu nehmen. Stattdessen bin ich Beobachter und insofern neutral. Das verbietet aber überhaupt nicht, dass die Presse, die Medien zu den Ereignissen Position beziehen in Kommentaren oder Bewertungen, die sie als solche kennzeichnen oder die als solche erkennbar sind.
Wie wirkt sich das Ausbreiten der Sozialen Medien auf die klassischen Medien aus: Verschwimmen da die Grenzen? Für sogenannte Bürger-Reporter gibt es ja keinen Presserat…
Das ist der maßgebliche Unterschied. Die klassischen Medien, darunter verstehen wir die journalistischen Medien, unterscheiden sich nicht in ihren Werkzeugen und ihren Verbreitungstechniken, sondern in ihren Standards für ihre professionelle Berichterstattung. Der Pressekodex gilt für die journalistischen Medien, die inzwischen auch die modernen Formen der Verbreitung ihrer Produkte in den Sozialen Netzwerken nutzen.
Welche Sorgfalt man dabei anlegt, wie man Persönlichkeitsschutz berücksichtigt und dergleichen mehr, alles das, was im Kodex steht, das unterscheidet die journalistischen Medien von allen anderen Formen der Massenkommunikation, wie sie im Netz stattfindet.
Der Entzug von Presse-Akkreditierungen während des Gipfels - aufgrund bislang geheimer Erkenntnisse des BKA, dem möglicherweise Informationen des türkischen Geheimdienstes zugrunde liegen.. wie interpretieren Sie den?
Ich denke, das ist ein schwerwiegender Vorgang - ohne zu bewerten, ob die Akkreditierung zu Recht nicht erteilt worden ist. Solange der Verdacht besteht, dass irgendein Geheimdienst unzulässig auf die Zulassung von Journalisten und damit auch auf die Berichterstattung Einfluss genommen hat - und das ist hier der entscheidende Punkt: jeder Eingriff dieser Art greift auch in die Berichterstattung der Medien ein - muss diesem Verdacht nachgegangen werden. Das muss auf jeden Fall geprüft werden!
Hoher Aufklärungsbedarf an dieser Stelle?
Absolut!
Und was heißt das für die Rolle der Presse? Ist das ein weiteres Argument für ihre Unabhängigkeit und ihre Staatsferne?
Die Unabhängigkeit und Staatsferne sind der Kern des Existenzrechts für eine freie Presse und ihren Anspruch auf Schutz. Die Staatsferne versetzt sie überhaupt erst in die Lage, das Handeln der Mächtigen im Interesse der Öffentlichkeit kritisch zu beobachten.
Der Deutsche Presserat ist eine freiwillige Selbstkontrollinstanz der deutschen Zeitungen, Zeitschriften und Online-Medien. Er wacht über die Einhaltung eines 16 Punkte umfassenden Pressekodex. Bei Verstößen kann der Presserat - öffentlich oder nicht öffentlich - eine Rüge erteilen. Der Journalist Manfred Protze ist Mitglied und Sprecher des Gremiums. Mit ihm sprach Stefan Dege.