Wie behindert muss man sein?
1. August 2020"Wir sind einigermaßen beruhigt, dass die Mannschaft nicht komplett auseinandergerissen wurde, gleichzeitig aber schockiert, dass es einen Negativbescheid gibt", sagt Mareike Miller, Kapitänin der deutschen Rollstuhlbasketball-Nationalmannschaft, der DW. "Wir machen uns Sorgen um unsere Mitspielerin, für die es eine schlechte Nachricht ist. Wir hoffen, dass es Möglichkeiten für einen Widerspruch gibt." Die angesprochene Teamkollegin ist Barbara Groß. Wegen des laufenden Verfahrens will sie sich selbst noch nicht äußern.
In der vergangenen Woche erhielt die 26-Jährige vom Rollstuhlbasketball-Weltverband IWBF die Nachricht, dass sie künftig nicht mehr international spielen darf. Groß war eine von neun Athletinnen und Athleten, die durch das Sieb des so genannten "Classification Code" des Internationalen Paralympischen Komitees (IPC) fiel. Im Auftrag des IPC hatte die IWBF in einem ersten Schritt 132 Rollstuhlbasketballerinnen und -basketballer überprüft. Darunter waren elf Deutsche. Zehn dürfen weiterspielen, eine nicht.
Silber in Rio de Janeiro
Barbara Groß war bisher in die Kategorie der "Minimalbehinderten" eingeordnet. Im Alltag benötigt sie zwar keinen Rollstuhl. Nach einem schweren Verkehrsunfall und mehreren Operationen war es Groß jedoch nicht mehr möglich gewesen, "Fußgängersport" zu treiben. Sie begann daher, Rollstuhlbasketball zu spielen. Seit 2015 gehört Groß zum Kader des Nationalteams und holte mit ihm fünf Medaillen bei internationalen Ereignissen, unter anderem Gold bei der EM 2015. Bei den Paralympischen Spielen 2016 in Rio de Janeiro gewann sie mit der deutschen Mannschaft Silber - und erhielt hinterher aus der Hand des damaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck das "Silberne Lorbeerblatt", die höchste sportliche Auszeichnung Deutschlands.
"Nicht betrogen"
Dass mit Groß eine seit vielen Jahren aktive Rollstuhlbasketballerin ausgebootet worden ist, sorgt vielerorts für Kopfschütteln. "Bisher konnte man nur aus dem Sport geworfen werden, wenn man gedopt hatte", sagt Mannschaftsführerin Miller. "Barbara Groß wurde ja schon vor Jahren für unseren Sport zugelassen, ist auch bei den Spielen in Rio angetreten. Jetzt wird sie plötzlich so behandelt, als habe sie etwas falsch gemacht." Diesem Eindruck tritt der Weltverband IWBF entgegen.
"Ich möchte betonen, dass ein Spieler, der als nicht spielberechtigt eingestuft wurde, das System nicht betrogen oder sich in irgendeiner Weise absichtlich falsch dargestellt hat", lässt Ulf Mehrens wissen, der deutsche Präsident des Verbands: "Die IWBF glaubt nach wie vor voll und ganz an unsere Klassifizierungsphilosophie und daran, dass der Sport für jeden mit einer anerkannten Beeinträchtigung der unteren Gliedmaßen inklusiv sein sollte."
Das ist ein Seitenhieb auf das IPC, das im Februar den Rollstuhlbasketballern sogar mit dem Ausschluss aus dem paralympischen Programm gedroht hatte, sollte der Weltverband die neuen, strengeren Klassifikationsregeln nicht umsetzen. "Nach mehreren Jahren Diskussion mit der IWBF mussten wir handeln", erklärt das IPC gegenüber der DW und verweist darauf, dass die IPC-Generalversammlung den Klassifizierungscode bereits 2015 verabschiedet habe: "Keine Sportart steht über den Regeln, die von den IPC-Mitgliedern festgelegt wurden." Man habe der IWBF "klar gesagt, dass vor den Paralympischen Spielen Tokio 2020 Änderungen vorgenommen werden müssen."
Ohne Vorwarnung
"Rollstuhlbasketball ist eine der inklusivsten Sportarten der Welt. Es ist ungerecht und unfair, dass einzelne Athleten ausgeschlossen werden, die nicht in die Schubladen passen, die das IPC formuliert hat", klagt Mareike Miller. "So unterschiedlich ist die medizinische Situation nicht, dass es dafür einen Anlass gäbe." Die Betroffenen seien regelrecht überrumpelt worden. "Es gab keinerlei Vorwarnung, die Athleten wurden vor vollendete Tatsachen gestellt. Uns wurde vorher gesagt, dass sich im Rollstuhlbasketball vorerst nichts ändern werde."
Dass die Aussortierung so kurz vor dem Paralympischen Spielen komme, mache es doppelt bitter, sagt Miller: "Selbst wenn die Spiele in Tokio nicht erst 2021, sondern, wie ursprünglich geplant, in wenigen Wochen stattfinden würden, wären die Athleten von heute auf morgen ausgeschlossen worden. Sie gehören zu den Mannschaften, die sich qualifiziert haben. Deshalb ist das für uns ein Unding." Auch Friedhelm Julius Beucher, Präsident des Deutschen Behindertensportverbands (DBS), mahnt mit Blick auf die Spiele in Tokio eine "faire Lösung" an: "Menschen im laufenden paralympischen Zyklus von den Spielen auszuschließen, ist nicht hinnehmbar."
Das IPC erklärt, man fühle durchaus mit den neun Athleten, die so kurz vor den Spielen aussortiert worden seien: "Hätte die IWBF jedoch wie andere Para-Sportarten die 2015 verabschiedeten Regeln des IPC-Klassifizierungscodes angewandt, wäre das Timing bezüglich Tokio 2020 nicht so problematisch gewesen."
Gelebte Inklusion
In Deutschland gibt es rund 2500 aktive Rollstuhlbasketballer, rund 80 Prozent davon sind Querschnittgelähmte. Seit vielen Jahren gilt Rollstuhlbasketball als vorbildlich in Sachen Inklusion: Männer und Frauen spielen zusammen, Menschen mit und ohne Handicap. Ein Punktesystem sorgt dafür, dass es in den Ligen nicht ungerecht zugeht. Die Skala reicht von einem Punkt für sehr schwer Behinderte (z.B. hoch Querschnittgelähmte) bis zu 4,5 Punkten für Minimalbehinderte (z.B. mit Bewegungseinschränkungen an Hüfte, Knien oder Knöcheln) und auch Menschen ohne Handicap. Die Gesamtzahl der Punkte in der fünfköpfigen Mannschaft darf 14 Punkte im Bereich der Nationalteams und 14,5 bei den Klubwettbewerben nicht überschreiten.
Amputation, um weiterspielen zu dürfen?
"Unsere Gesellschaft wird immer inklusiver. Die Sicht, dass nur ein Rollstuhlfahrer Rollstuhlsport machen kann, ist engstirnig", sagt Nationalspielerin Miller. Ihr Sport zeige, dass es auch anders gehe. Umso bedauerlicher sei die Haltung des Internationalen Paralympischen Komitees. "Härtere Grenzen für Rollstuhlbasketball zu setzen, macht ihn schlechter." Das Klassifizierungssystem des IPC müsse "zeitnah diskutiert und weiter gefasst werden. Sportarten wie Rollstuhlbasketball, die inklusiv sein können, müssen diesen Spielraum auch haben. Die Paralympischen Spiele schaden sich auf Dauer selbst, wenn sie immer exklusiver werden."
Zu den neun jetzt aussortierten internationalen Rollstuhlbasketballern gehört auch der Brite George Bates, der seit seiner Kindheit, in der er viel Fußball spielte, an einem komplexen regionalen Schmerzsyndrom (CRPS) leidet. Ärzte nannten ihm als eine Option, sich das chronisch schmerzende Bein amputieren zu lassen. "Aufgrund der Entscheidung des IPC könnte ich nun gezwungen sein, diese herzzerreißende Option noch einmal zu überdenken", sagte der 26-Jährige. Zunächst will Bates jedoch gegen seinen Ausschluss klagen.
Hinweis: Der Artikel wurde um eine später eingegangene Stellungnahme des IPC ergänzt.