Sachverständige ziehen gemischte Corona-Bilanz
1. Juli 2022Der Corona-Sachverständigenausschuss der Bundesregierung empfiehlt, dass künftig eine Maskenpflicht nur noch in Innenräumen verhängt werden soll. Dort gelte ein höheres Infektionsrisiko, schreiben die Sachverständigen in ihrer Analyse der bisherigen Corona-Politik. "Eine generelle Empfehlung zum Tragen von FFP2-Masken ist aus den bisherigen Daten nicht ableitbar", heißt es.
Auch der Sinn von 2G/3G-Regeln, die in der Pandemie etwa den Besuch von Veranstaltungen an Impfung oder Test knüpften, wird nur begrenzt gesehen. Der Effekt sei zwar in den ersten Wochen hoch, aber dann lasse die Schutzwirkung der Impfungen nach.
Den Effekt von Schulschließungen beurteilen die Experten als nicht eindeutig, weil dabei mehrere Maßnahmen zusammenträfen. Die interdisziplinär zusammengesetzte Expertengruppe mahnte eine bessere Evaluation der Wirkung von Corona-Schutzmaßnahmen gerade auf Kinder an. Generell gilt nach den Worten des Bonner Virologen Hendrik Streeck, der dem Ausschuss angehört: "Wir haben eine schlechte Datenlage."
"Effekt lässt schnell nach"
Lockdowns werden in der ersten Phase einer Pandemie durchaus begrüßt. "Je länger ein Lockdown dauert und je weniger Menschen bereit sind, die Maßnahme mitzutragen, desto geringer ist der Effekt und umso schwerer wiegen die nicht-intendierten Folgen", warnen die Experten aber. "Die Wirksamkeit eines Lockdowns ist also in der frühen Phase des Containments am effektivsten, verliert aber den Effekt wiederum schnell." Dies gelte auch für Kontaktnachverfolgungen.
Dem Gremium, das je zur Hälfte von Bundesregierung und Bundestag besetzt wurde, gehören Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen an. Die Evaluation soll vor allem die Vorgaben im Rahmen der "epidemischen Lage von nationaler Tragweite" beleuchten. Diese vom Bundestag laut Infektionsschutzgesetz festgestellte Lage bestand über mehrere Monate bis Ende November 2021 und ermöglichte Schließungen zahlreicher Einrichtungen sowie Alltagsauflagen.
Buschmann: Keine Lockdowns, Schulschließungen und Ausgangssperren mehr
Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) sieht nach dem Expertenbericht zur Bewertung der Corona-Maßnahmen keine Grundlage mehr für eine Reihe bisher genutzter Mittel zur Bekämpfung der Pandemie. Es lasse sich "sicher sagen, dass Eingriffe wie Lockdowns, Schulschließungen und Ausgangssperren nicht mehr verhältnismäßig sind", sagte Buschmann in Berlin. "Mit diesen Instrumenten wollen wir nicht mehr arbeiten." Dagegen würden Masken in Innenräumen sicher "eine Rolle im Schutzkonzept für den Herbst spielen", sagte Buschmann weiter.
Der Justizminister zeigte sich "sehr zuversichtlich", dass die Ampel-Koalition "im Laufe des Juli einen guten Vorschlag" für das Vorgehen im Herbst und Winter machen werde. Buschmann beriet an diesem Freitag bereits mit Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) über das künftige Infektionsschutzgesetz, das in seiner bisherigen Fassung zum 23. September ausläuft. Auch Lauterbach zeigte sich zuversichtlich über die anstehenden Beratungen und hofft auf gute Kompromisse. Er erwarte nach der aktuellen Sommerwelle eine "schwere Herbstwelle", so der Minister weiter.
Schnellere Überarbeitung des Gesetzes gefordert
Schon vor der Veröffentlichung des Berichts kam aus dem Sachverständigenausschuss die Forderung nach einer schnelleren Überarbeitung des Infektionsschutzgesetzes. Die notwendige Reform könne "handwerklich nicht gut werden, wenn man die Sommerpause verstreichen lässt und erst im September den Stift in die Hand nimmt", sagte die Juristin Andrea Kießling, die dem Gremium angehört, der "Zeit" am Mittwoch.
Auch die Union sorgt sich um den Zeitplan. Der CDU-Gesundheitsexperte Tino Sorge bezeichnete es in der "Augsburger Allgemeinen" als sportlich, die neuen Bestimmungen für den Herbst im Wesentlichen nach der Sommerpause beschließen zu wollen. Sorge sprach sich gegen tiefgreifende Einschnitte in die persönliche Freiheit aus, um das Virus einzudämmen.
Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt machte der FDP wegen des Zeitplans Vorhaltungen. "Auf ein Gutachten zu warten, damit man erst mal nichts tun muss, halte ich in der Bekämpfung einer Pandemie nicht für besonders verantwortlich", sagte die Grünen-Politikerin der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Man hätte gut daran getan, schon vor der Sommerpause zumindest Eckpunkte für einen Gesetzentwurf vorzulegen.
Mediziner: Auch Lockdown muss möglich sein
Die Amtsärzte plädieren für eine möglichst weitreichende Ausgestaltung des Infektionsschutzgesetzes. "Auch ein Lockdown muss als eines der letzten Instrumente grundsätzlich möglich sein", sagte der Vorsitzende des Bundesverbandes der Ärztinnen und Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes, Johannes Nießen, den Zeitungen der Funke-Mediengruppe.
Der Sachverständigenausschuss zu den bisherigen Corona-Maßnahmen ist nicht mit dem Expertenrat der Bundesregierung zu verwechseln, der schon mehrere Stellungnahmen zu anstehenden Entscheidungen vorlegte. Um das Gremium hatte es Wirbel gegeben, nachdem der Leiter der Virologie an der Charité Berlin, Christian Drosten, Ende April seinen Rückzug mitgeteilt hatte.
Zur Begründung hieß es unter anderem, dass Ausstattung und Zusammensetzung des Gremiums aus seiner Sicht nicht ausreichten, um eine hochwertige Evaluierung gewährleisten zu können. Für Drosten rückte auf Vorschlag der Union der Virologe Klaus Stöhr nach.
Steigende Corona-Zahlen
Unterdessen berichtet das Robert-Koch-Institut in seinem neuen Wochenbericht von einer anziehenden Dynamik des Infektionsgeschehens. Bei der bundesweiten Sieben-Tage-Inzidenz gab es demnach einen Anstieg um 38 Prozent im Vergleich zum Vorwochenzeitraum. Ein deutliches Plus gebe es auch bei der Zahl der Ausbrüche in Alten- und Pflegeheimen sowie bei der Zahl der auf Intensivstationen behandelten Menschen mit COVID-19. Die ansteckendere Omikron-Sublinie BA.5 hat laut Wochenbericht bereits einen Anteil von 66 Prozent erreicht.
bri/jj (dpa, afp, rtr)