Schicksalswahl für Erdogan
30. März 2014Ob Erdogan geschwächt oder gestärkt aus dieser Prüfung hervorgeht, entscheidet sich nicht zuletzt in der 15-Millionen-Metropole Istanbul, wo der heutige Ministerpräsident vor genau 20 Jahren seine politische Karriere als Oberbürgermeister begann. Verliert seine Partei AKP die Herrschaft im Rathaus der Riesenstadt an Bosporus, wäre der 60-jährige Regierungschef politisch schwer angeschlagen.
Mustafa Sarigül ist der Mann, der diesen Schlag führen will. Der Bürgermeister des reichen Istanbuler Bezirks Sisli tritt als Kandidat der säkularen Oppositionspartei CHP in Istanbul gegen Erdogans Parteifreund und amtierenden Bürgermeister Kadir Topbas an. Umfragen sagen ein knappes Ergebnis voraus. Sarigül verspricht für den Fall eines Wahlsieges Gratis-Internet in der ganzen Stadt und kostenlose Benutzung des öffentlichen Nahverkehrs für Studenten - klare Zeichen, dass der 57-Jährige vor allem die junge Generation für sich gewinnen will. Erdogan nennt Sarigül einen "Anarchisten".
Hitzige Wortgefechte
In türkischen Wahlkämpfen gehen die Politiker stets relativ deftig zu Werke, wenn es um die Beschimpfung ihrer Gegner geht. Doch die derzeitige Kampagne ist selbst für die Türkei ungewöhnlich. CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu nennt Erdogan den "Ober-Dieb", der Ministerpräsident wirft seinen Gegnern vor, eine "Terrororganisation" zum Sturz der Regierung gebildet zu haben.
Die Korruptionsvorwürfe der jüngsten Zeit haben Erdogan schwer zugesetzt. Fast täglich tauchen im Internet neue Mitschnitte von Telefonaten auf, die ihn oder andere Regierungsmitglieder in Verlegenheit bringen. Mal geht es um Bestechung, mal um Druck auf die Medien. Der Regierungschef selbst sieht all das als Komplott der Bewegung des islamischen Predigers Fethullah Gülen, der die AKP lange unterstützte, inzwischen aber mit der Regierung über Kreuz liegt.
Massenversetzungen und Twitter-Verbot
Als Antwort auf die Korruptionsvorwürfe hat Erdogan mehrere tausend Polizisten, Richter und Staatsanwälte versetzen lassen, die als Gülen-Anhänger galten. Vergangene Woche ließ er zudem den Zugang zum Kurznachrichtendienst Twitter sperren, um die Verbreitung weiterer Enthüllungen zu verhindern. Vergangenen Donnerstag machte Erdogan dann seine Drohung wahr und schaltete auch die Videoplattform YouTube ab. Seine Anhänger sehen in den Schritten notwendige Maßnahmen zum Schutz des Staates, seine Gegner Anschläge auf die Demokratie und Zeichen der Panik eines zunehmend autoritär regierenden Politikers.
Fethi Acikel, Politikprofessor an der Universität Ankara, erkennt eine genau kalkulierte Strategie hinter Erdogans harschem und polarisierendem Auftreten. Seit den Gezi-Protesten des vergangenen Sommers habe der Ministerpräsident versucht, mit Hilfe "kontrollierter Spannungen" in der Gesellschaft sein Ziel eines neuen Präsidialsystems in der Türkei zu erreichen, sagte Acikel der Deutschen Welle. Statt des derzeit politisch relativ schwachen Präsidentenamtes strebt Erdogan die Umstellung auf ein System nach französischem oder amerikanischem Vorbild an - mit ihm selbst an der Spitze.
Kommunalwahlen als Referendum
Doch aus dem Plan wurde nichts. Stattdessen wandten sich immer mehr Türken vom Ministerpräsidenten ab, acht Menschen starben bei den Gezi-Protesten, die Polarisierung nahm weiter zu. Die Korruptionsvorwürfe verschärften das Klima zusätzlich, weil sie in bisher unbekannter Dimension die mutmaßlichen dunklen Seiten der AKP offenbarten. "Deshalb sind diese Wahlen gewissermaßen zu einem Referendum für oder gegen die nepotistische, korrupte und autoritäre Politik der AKP geworden", sagte Acikel.
Niemand erwartet, dass die Spannungen nach dem Wahltag zurückgehen. Acikel rechnet im Gegenteil mit weiteren Verwerfungen, zumindest bis zur Präsidentenwahl im August. Derzeit ist unbekannt, ob Amtsinhaber Abdullah Gül - der sich in den vergangenen Wochen mehr und mehr von seinem alten Weggefährten Erdogan distanzierte - noch einmal antritt, oder ob Erdogan selbst kandidiert.
Szenarien für den Tag nach der Wahl
Die Antwort auf diese Frage hängt eng mit dem Wahlausgang von Sonntag zusammen. Die Umfragen sehen die AKP irgendwo zwischen 35 und 45 Prozent, weil sie ihre konservative Wählerbasis nach wie vor hinter sich hat. Das würde bedeuten, dass sie die stärkste Partei bleibt, aber im Vergleich zur Parlamentswahl von 2011, als sie knapp 50 Prozent erhielt, Stimmen verlieren wird. Erdogan betrachtet jedes Ergebnis, das über dem Kommunalwahlresultat von 2009 liegt, als Erfolg, damals kam seine Partei auf 38,8 Prozent.
Rutscht die AKP unter diese Schwelle und verliert dazu wichtige Städte wie Ankara oder Istanbul, wird wohl nichts aus Erdogans Präsidentschaftsambitionen. Seine Gegner wissen das und rufen im Internet vor der Schicksalswahl dazu auf, etwa in Istanbul alle Oppositionsstimmen auf den CHP-Kandidaten Sarigül zu konzentrieren.
"Stille Opposition" in der AKP gegen Erdogan
In der AKP wächst nach Meinung von Beobachtern das Unbehagen über Erdogans Kurs. Es gebe eine "stille Opposition" innerhalb der Regierungspartei, die sich derzeit aber nicht aus der Deckung wage, sagte der Buchautor und Kolumnist Mustafa Akyol der Deutschen Welle. Nur wenn Erdogans persönliche Beliebtheit bei den Stammwählern der AKP sinke, werde eine Palastrevolution gegen den 60-Jährigen denkbar.
Doch selbst wenn die AKP mehr als 40 Prozent holt, wird sich die Lage kaum beruhigen. Erdogan hat bereits angekündigt, dass er nach dem Wahltag mit neuer Härte gegen die Gülen-Bewegung vorgehen will. In den Medien wird über Maßnahmen gegen Wirtschaftsunternehmen und Verbände spekuliert, die der Bewegung nahe stehen. Der Gülen-nahe Fernsehsender Kanaltürk verlor jetzt bereits seine Lizenz als landesweite Fernsehanstalt.
"Spaltung der islamischen Intelligenzia"
Einige Beobachter setzen angesichts der Lage auf eine Wiederbelebung der politischen Reformen. Die Türkei stehe vor einem "Problem des Übergangs" zu einer neuen Ära, sagte Murat Somer, Politikwissenschaftler an der Istanbuler Koc-Universität, der Deutschen Welle. Erdogan müsse mittlerweile "die Demokratie und die offene Gesellschaft abwürgen, um sich an der Macht zu halten".
Der Ministerpräsident habe versucht, seine Macht zu steigern und eine Kontrolle der Regierung durch andere Institutionen zu vermeiden, indem er an nationale und islamische Werte appellierte. "Doch jetzt ist auch die islamische Intelligenzija in sich gespalten", sagte Somer mit Blick auf den Streit zwischen Erdogan und der Gülen-Bewegung.
Einen Ausweg sieht Somer in einer Wiederbelebung des Reformkurses des letzten Jahrzehnts. "Wir müssen die Krise mit den bewährten Prinzipien der Gewaltenteilung und des Rechtsstaates überwinden, indem wir dafür sorgen, dass die nächste türkische Regierung auf den Pfad der rechtlichen und politischen Reformen zurückkehrt."