Vier Augen, zwei Stunden, ein Appell
15. März 2022"Wir sind uns völlig einig", sagte Bundeskanzler Olaf Scholz in Ankara. Die Türkei und Deutschland teilten "gemeinsame Ansichten und Sorgen" über den Angriff Russlands, sagte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan. Zwei Stunden lang hatten die beiden NATO-Partner ein sogenanntes "Vier-Augen-Gespräch" geführt, also vermutlich nur mit Dolmetschern, und damit vertraulich. Vor der internationalen Presse folgte ein demonstrativer Schulterschluss.
Es müsse "so schnell wie möglich einen Waffenstillstand geben", betonte Scholz und sein Gastgeber unterstrich: "Wir werden die Bemühungen um einen dauerhaften Waffenstillstand unentwegt fortsetzen." Gemeinsam appellierten Scholz und Erdogan an den russischen Präsidenten Wladimir Putin, seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu stoppen. "Mit jedem Tag, mit jeder Bombe entfernt sich Russland mehr aus dem Kreis der Weltgemeinschaft."
Erdogan sieht sich als Friedensstifter
Die Türkei hat enge Energie-, Verteidigungs- und Handelsabkommen mit Russland. Im Gegensatz zu Europa hat die Türkei ihren Luftraum nicht für russische Flugzeuge gesperrt und sich auch nicht den Sanktionen des Westens gegen die russische Wirtschaft angeschlossen. Erdogan hatte jedoch den russischen Einmarsch in die Ukraine als "inakzeptabel" verurteilt und betont, die Türkei habe im Rahmen der Regeln der Vereinten Nationen getan, was immer notwendig gewesen sei.
"Wir müssen unsere Freundschaft zu Selenskyj und Putin bewahren", sagte Erdogan mit Blick auf den ukrainischen Staatschef Wolodymyr Selenskyj und den russischen Präsidenten. Dementsprechend möchte die Türkei in dem Konflikt eine Vermittlerrolle spielen. Am Donnerstag hatten sich die Außenminister der Ukraine und Russlands im türkischen Antalya zu einem ersten hochrangigen Gespräch der beiden Kriegsparteien seit Beginn des russischen Einmarschs getroffen. Inhaltlich blieb das Treffen zwar ohne Erfolg, doch allein die Tatsache, dass es stattgefunden hat, gilt als diplomatischer Erfolg.
Die Türkei ist politisch und strategisch von Bedeutung
"Wir müssen dafür Sorge tragen, dass jetzt auch bald Ergebnisse erzielt werden, die einen Waffenstillstand ermöglichen", betonte Scholz. Mit der Türkei als NATO-Partner werde in dem Konflikt eng kooperiert. Ankara habe sich klar gegen den Krieg Russlands ausgesprochen und auch Waffen geliefert, sagte Scholz, und lobte die Türkei ebenso dafür, dass sie die Meerengen Bosporus und Dardanellen für Kriegsschiffe der Konfliktparteien in der Ukraine geschlossen hat. Die russische Marine kommt damit nicht mehr ins Schwarze Meer hinein oder von dort heraus.
Für Scholz ist die Reise in die Türkei der fünfte Antrittsbesuch in einem Land außerhalb der Europäischen Union seit seiner Vereidigung vor gut drei Monaten. Zuvor war er in den USA, in der Ukraine, in Russland und in Israel. Neben dem Ukraine-Krieg gab es für bilaterale Themen zwar nur begrenzten Raum. Es ging aber auch um die Wirtschaftsbeziehungen, den für die Türkei so wichtigen Tourismus und um den Ausbau der Zusammenarbeit bei der Energieversorgung.
Die schwierigen Themen Demokratie und Menschenrechte
2017 hatte unter anderem die Inhaftierung deutscher Staatsbürger eine lang andauernde frostige Phase zwischen beiden Ländern ausgelöst. Und das Verhältnis der beiden NATO-Partner ist nach wie vor keineswegs spannungsfrei. Es gebe "Differenzen, Belastungen, unterschiedliche Ansichten, die wir haben, etwa wenn es um Fragen von Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit geht", führte der Bundeskanzler aus.
Erdogan ignorierte die auch an ihn gerichtete Frage nach den Menschenrechten und zeigte sich insgesamt zufrieden. Das Gespräch mit Scholz habe in einer "aufrichtigen Atmosphäre" stattgefunden, sagte er. Er hob die engen Verbindungen zwischen den Ländern hervor - etwa drei Millionen Menschen türkischer Herkunft leben in Deutschland - und betonte, der Türkei sei wichtig, in regionalen Fragen eng mit Deutschland zusammenzuarbeiten. Der bilaterale Handel solle von zuletzt 41 Milliarden Dollar zügig auf 50 Milliarden Dollar ausgeweitet werden, so der türkische Präsident.
Mindestens ebenso schwierig: Türkei und EU
"In der Tat, da ist viel möglich", sagte auch Scholz mit Blick auf die wirtschaftlichen Beziehungen. "Da geht noch mehr", fügte er hinzu und erwähnte eine Energiepartnerschaft zwischen der Türkei und der Europäischen Union. Hintergrund ist, dass die Türkei mit Pipelines Gas aus Aserbaidschan und dem Iran nach Europa leiten will. "Wir brauchen natürlich eine Diversifizierung der Energieversorgung in Europa, was Gas, Öl und Kohleversorgung aus anderen Quellen als Russland betrifft", sagte der Kanzler.
Scholz kündigte zudem an, sich für eine "Weiterentwicklung der Zollunion" einzusetzen. Damit käme er eine langjährigen Forderung der Türkei an die EU entgegen, weil dies einen besseren Zugang zum EU-Binnenmarkt ermöglichen würde. Die Türkei ist zwar seit 1999 ein Beitrittskandidat der EU, spätestens seit 2017 gilt ein Beitritt jedoch als nicht mehr realistisch.
rb/wa (AFP, AP, dpa, Reuters)