Schröder und die Vertrauensfrage: Wo liegen die Hürden?
1. Juli 2005
Seit Wochen wird darüber gestritten, ob Gerhard Schröder das Instrument der Vertrauensfrage missbraucht, um Neuwahlen durchzusetzen. Der Grünen-Abgeordnete Werner Schulz warf Schröder vor, er wolle sich das Grundgesetz "zurechtbiegen, wie es ihm gerade passt". Wie ist Ihre Meinung?
Die Vertrauensfrage ist im Artikel 68 des Grundgesetzes geregelt. Der spricht von einem Antrag des Bundeskanzlers an den Bundestag, ihm das Vertrauen auszusprechen. Vorausgesetzt wird dabei, dass es eine Zerrüttung, bzw. Zwistigkeiten zwischen dem Kanzler und der Parlamentsmehrheit gibt. Die Vertrauensfrage soll dem Bundeskanzler Klarheit verschaffen, der sagt: "Jetzt will ich es einmal genau wissen. Wollen wir weitermachen: ja oder nein?" Und eigentlich denkt das Grundgesetz an einen Antrag, der auf einen positiven Ausgang der Vertrauensfrage gerichtet ist. D.h. es wird davon ausgegangen, dass der Kanzler hofft, dass ihm das Vertrauen ausgesprochen wird. Allerdings verbietet das Grundgesetz nicht, dass man auch die Klarstellung in eine negative Richtung will. Das wäre noch kein Missbrauch
Wann ist es ein Missbrauch?
Von einem Missbrauch ist dann zu sprechen, wenn der Kanzler und die Mehrheit des Parlamentes das Misstrauen herstellen, obwohl sie genau wissen, dass sie nach wie vor weiter zusammenarbeiten könnten. Wenn sie sich das Misstrauen aussprechen mit dem einzigen Ziel Neuwahlen zu erreichen, dann ist das nicht im Sinne von Artikel 68. Das ist Manipulation.
Ist ein wirkliches Misstrauen ihrer Meinung nach vorhanden?
Wo denn? Ich sehe es nicht. Aus den Koalitionsfraktionen hat es immer wieder Kritik gegeben, aber das reicht ja nicht. Die Mehrheit des Bundestages - dafür braucht man auch einige Mitglieder aus der Regierungskoalition - muss sagen: Mit diesem Kanzler können wir nicht mehr. Diese Situation sehe ich nirgends dokumentiert. Das darf ja auch kein geheimer Vorgang sein. Er muss nachweisbar sein. Ich sehe lediglich die üblichen Streitigkeiten. Wenn sich da nichts tut, sehe ich nicht, wie sie den Artikel 68 benutzen können.
Nehmen wir nun an, der Kanzler ist mit der Vertrauensfrage - aus seiner Sicht - erfolgreich und bekommt das Misstrauen ausgesprochen. Was passiert dann?
Der Kanzler müsste den Bundespräsidenten daraufhin bitten, den Bundestag aufzulösen. Der hat drei Wochen Zeit, bis er die Entscheidung für oder gegen die Auflösung trifft.
Was muss der Bundespräsident bei seiner Entscheidung beachten?
Es gibt zwei Stufen der Prüfung beim Bundespräsidenten. Hat der Kanzler den Antrag auf Auflösung gestellt, muss der Bundespräsident zunächst einmal prüfen: Ist das eine ernsthafte Misstrauenssituation, ist da wirklich eine Zerrüttung und ist die Arbeit des Bundeskanzlers gelähmt. Das Bundesverfassungsgericht hat gesagt, bei der Beurteilung dieser rechtlichen Frage soll der Bundespräsident den Eindruck des Kanzlers zugrunde legen. Schließt sich der Bundespräsident der Wertung des Bundeskanzlers an, kommt die zweite Stufe und die Frage: Ordnet er die Auflösung an? Der Bundespräsident hat hier einen Ermessungsspielraum. Er muss, auch wenn er die Voraussetzung des Artikels 68 als gegeben ansieht, nicht auflösen. Er kann auch sagen, ihr macht weiter. Ihr (das Parlament) habt ja die Möglichkeit mit der Mehrheit einen Bundeskanzler zu wählen.
Lesen Sie im zweiten Teil, ob Neuwahlen durch eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht gestoppt werden können und warum Rechtsexperte Pestalozza den Rücktritt des Kanzlers nicht für die beste Lösung hält.
Mehrere Abgeordnete haben angekündigt, beim Bundesverfassungsgericht, Klage einzureichen, weil sie Schröders Vorgehen als verfassungswidrig einstufen. Haben die Aussicht auf Erfolg?
Erst wenn der Bundespräsident den Bundestag aufgelöst hat, könnten diese Abgeordneten einen Organstreit vor dem Bundesverfassungsgericht einleiten. Bei seinem Urteil würde sich das Gericht wohl auf seine Entscheidung von 1983 beziehen. (Kurz nach seiner Wahl zum Bundeskanzler hatte Helmut Kohl im Januar 1983 die "Vertrauensfrage" genutzt, um den Bundestag neu wählen zu lassen. Anmerkung d. Red.) Da gab es eine vergleichbare Situation. Damals hat das Gericht Leitlinien zum Art. 68 entworfen und klar gemacht, dass Art. 68 nicht dazu taugt, nur weil alle Welt Neuwahlen will, nun auch zu Neuwahlen zu gelangen. Nötig ist die angesprochene Zerrüttung zwischen der Mehrheit des Parlaments und dem Kanzler. Wenn die nicht nachweisbar ist – und das Abstimmungsergebnis ist kein Nachweis, weil es ja getürkt sein kann –, dann wird das Bundesverfassungsgericht feststellen, dass das verfassungswidrig war.
Wie ist so etwas denn nachweisbar?
Das Gericht hat sich 1983 an das gehalten, was in der Öffentlichkeit gesagt und geschrieben worden ist. Außerdem hat der Bundespräsident zusätzlich noch Gespräche mit den Partei- und Fraktionsvorsitzenden geführt. Aus dem veröffentlichten Material und aus diesen Gesprächen wurde dann der Eindruck gewonnen: Ja es geht wirklich nicht weiter.
Inwiefern unterscheidet sich die Situation von 1983 von der heutigen Situation?
Damals war die Situation schon manipuliert und hätte meiner Meinung nach nicht zur Auflösung führen dürfen. Das Bundesverfassungsgericht hatte strenge Leitlinien aufgestellt, sich dann aber nicht dran gehalten. Damals hatten wir aber wenigstens dokumentierte Aussagen aus der FDP (dem Koalitionspartner), die lauteten. "Wir wollen mit dem durch ein Misstrauensvotum ins Amt gekommenen Kanzler nur für eine begrenzte Zeit zusammenarbeiten." Das BVG hat das ernst genommen und das als Krisensituation eingestuft. Von einer solchen Situation kann heute überhaupt nicht die Rede sein. Wir sind von dieser Situation weit entfernt.
Was halten Sie von der Absicht der Minister, sich eventuell bei der Vertrauensfrage am 1. Juli zu enthalten?
Sollte die Abstimmung nur deshalb zustande kommen, weil die Ministerriege sich enthalten hat, dann liegt die Annahme einer Manipulation natürlich nah. Ausgerechnet die getreusten der Getreuen versagen sich, enthalten sich der Stimme und dadurch kommt eine Mehrheit gegen den Kanzler zustande. Das ist keine Zerrüttung. Vor einem solchen Schritt kann ich nur warnen, denn das würde nur dokumentieren, dass die Sache getürkt ist.
Sollte der Kanzler nicht einfach zurücktreten?
Ich verstehe, dass Schröder den Weg des Rücktritts nicht gewählt hat. Schröder will ja sagen, dass er gerne weiter machen möchte, aber unsicher geworden ist, ob der Wähler ihn noch unterstützt. Die Frage an den Wähler, wollt ihr mich noch, kann er über den Rücktritt aber nicht stellen. Denn ein Rücktritt führt ja nicht direkt zu Neuwahlen. Nur wenn der Bundestag die Wahl eines neuen Kanzlers mehrfach scheitern lässt, dann ergibt sich eine Variante der Auflösung des Parlaments. Doch das ist ganz vage und ein verschlungener und langwieriger Weg. Wenn er zurücktritt, würde das heißen, er schmeißt das Handtuch.
Was wäre denn Ihrer Meinung der sauberste Weg, um zu Neuwahlen zu gelangen?
Wenn man partout Neuwahlen will, könnte man das Selbstauflösungsrecht des Bundestages einführen. Das haben ja auch die Landesverfassungen. Das ist ein ganz unverdächtiges Instrument. Es sieht vor, dass der Bundestag mit qualifizierter Mehrheit seine Auflösung beschließt. Doch da gibt es merkwürdigerweise Berührungsängste. Ich weiß nicht, wer da Angst wovor hat.
Der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Ernst Benda, kritisiert, dass Neuwahlen via Vertrauensfrage durchgesetzt werden sollen. Dadurch könnte der Eindruck entstehen, das Grundgesetz sei für die Politik nur eine eher "lästige Hürde". Wie sehen Sie das?
Dem habe ich nichts hinzufügen. Es könnte nicht nur der Eindruck entstehen. Der Eindruck ist bereits entstanden. Alle Parteien bereiten bereits Wahlkampfprogramme vor. Die Reaktion der Opposition auf die Ankündigung des Kanzlers Neuwahlen einzuleiten war hektisch. Flugs bestimmten sie ihre Kanzlerkandidatin. Das halte ich für ein Unding. Diese reflexartige Aufnahme des Wahlkampfes zeigt, wie wenig ernst das Grundgesetz genommen wird. Wenn letztlich der Bundestag nicht aufgelöst wird, das ist doch eine unglaubliche Blamage.
Christian Pestalozza ist Professor für Öffentliches Recht, Staats- und Verwaltungsrecht an der Freien Universität Berlin