Streit um das Bürgergeld in Deutschland
4. August 2024Am Anfang war das Zitat vom konservativen CDU-Politiker Carsten Linnemann: "Die Statistik legt nahe, dass eine sechsstellige Zahl von Personen grundsätzlich nicht bereit ist, eine Arbeit anzunehmen."
In diesen Fällen würden Kürzungen beim Bürgergeld, also der Unterstützung für Bedürftige zum Lebensunterhalt, um 20 oder 30 Prozent nicht reichen. "Dann muss die Grundsicherung komplett gestrichen werden", erklärte Linnemann.
Die so genannte Grundsicherung umfasst Sozialleistungen, die ein Mensch für das absolute Existenzminimum braucht.
Carsten Linnemann ist nicht irgendein Politiker. Sondern er ist der mächtige Generalsekretär der konservativen CDU. Er geht davon aus, dass mindestens 100.000 Menschen zu Unrecht Bürgergeld erhielten, weil sie zumutbare Arbeit ablehnten.
Für die Zahl 100.000 gibt es allerdings keinerlei statistische Belege. Doch die Debatte um Sozialleistungen des Staates nimmt seitdem an Fahrt auf. Linnemann erfährt aus seiner Partei Unterstützung, aber auch Kritik. Die Oppositionsparteien Grüne, Linke und auch Sozialverbände werfen ihm Populismus vor.
Der Politikwissenschaftler und Redakteur der Zeitschrift Blätter für deutsche und internationale Politik, Albrecht von Lucke, hält im DW-Gespräch diese Debatte für "zunächst einmal berechtigt".
Er weist aber auch auf den Zeitpunkt der Äußerung hin; rund einen Monat vor wichtigen Landtagswahlen in drei ostdeutschen Bundesländern: "Ich habe den Eindruck, dass die Union in diesen Wahlkampfzeiten den Druck auf Bürgergeldbezieher ganz bewusst erhöht, weil sie selbst unter dem Druck von AfD und BSW steht."
Die beiden populistischen Parteien stehen in Umfragen derzeit sehr gut da.
Wer bekommt wieviel Bürgergeld
Auf der Homepage des zuständigen Arbeitsministeriumsheißt es: "Das Bürgergeld sichert all denjenigen ein menschenwürdiges Existenzminimum, die ihren Lebensunterhalt nicht aus eigenem Einkommen oder Vermögen decken können."
Das Bürgergeld wurde Anfang 2023 - auch mit Zustimmung der konservativen Union - eingeführt und ist der Nachfolger des Arbeitslosengelds II; früher Hartz IV genannt.
Derzeit erhalten rund 5,5 Millionen Menschen Bürgergeld. Alleinstehende oder Alleinerziehende bekommen 563 Euro. Bei Paaren sind es 506 Euro pro Person.
Für Kinder liegen die Sätze altersabhängig zwischen 357 bis 471 Euro. Die öffentlichen Kassen übernehmen außerdem die Krankenversicherung, die Kosten für die Unterkunft, also Miete und Heizkosten. Es gibt zudem Geld für Wohnungseinrichtung und Schulbedarf.
Teurer Sozialstaat
Auch Menschen, die wegen des Krieges aus der Ukraine flüchten mussten, erhalten Bürgergeld. Immer wieder gibt es Forderungen, das zu ändern. Derzeit erhalten nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit rund 720.000 Menschen aus der Ukraine Bürgergeld.
Für diese Sozialleistungen hat die Regierung 2024 insgesamt rund 41 Milliarden Euro eingeplant; zunächst waren nur 37,6 Milliarden vorgesehen.
Das Bürgergeld verschlingt also mehr Steuern, als von der Politik zunächst gedacht. Insgesamt wendet der Staat in diesem Jahr für alle Sozialleistungen – also das Bürgergeld, für Menschen ohne Arbeit, anders sozial benachteiligte Gruppen und Zuzahlungen zur Rentenkasse - rund 176 Milliarden Euro auf. Weit mehr als ein Drittel des gesamten Bundeshalts; also der Gesamtausgaben des Staates.
Kann das Bürgergeld gestrichen werden?
Carsten Linnemann will einigen Menschen das Bürgergeld ganz streichen, weil Deutschland seiner Ansicht nach sowieso zu viel Geld für Wohlfahrt ausgebe.
Bedürftigen ihre Unterstützung zu kürzen ist schwierig. Sie ganz zu streichen, sogar unzulässig. Dafür ist ein Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts von 2019 wegweisend - des höchsten deutschen Gerichts.
Der Staat müsse, so heißt es dort, ein menschenwürdiges Existenzminimum sichern. Staatliche Verpflichtung sei es, die Würde des Menschen zu achten und zu schützen.
Aber auch die Bezieher von Sozialleistung haben Verpflichtungen. Sie müssen zum Beispiel Beratungstermine im Arbeitsamt einhalten und eine Arbeit, die ihnen angeboten wird, auch akzeptieren. Tun sie das nicht, kann der Staat sie bestrafen und die Bezüge um bis zu 30 Prozent zusammenstreichen.
Politikwissenschaftler von Lucke glaubt, dass mehr Druck, gar eine Streichung des Bürgergeldes, das "Problem nicht beseitigen" würde: "Und sie (die Streichung, d.Red.) verstößt sogar gegen die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts."
Der Generalsekretär der liberalen Koalitionspartei FDP, Bijan-Djir-Sarai, wies kürzlich darauf hin, dass die Regierung plane, Verschärfungen beim Bürgergeld vorzunehmen. Einschnitte und härtere Strafen für sogenannte Arbeitsunwillige seien geplant - also für die, die offenbar gar nicht arbeiten wollen.
Politikwissenschaftler von Lucke bringt es auf den Punkt: "Es ist durchaus nötig, das Fordern wieder mehr zu betonen. Um einem Missbrauch entgegenzuwirken, ist Sanktionierung zulässig."
Dieser Artikel wurde am 05.08.2024 geändert.