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Politik

"Russland hat ein unruhiges Jahr vor sich"

Natalia Smolentceva
4. Februar 2021

Der Oppositionelle Alexej Nawalny könnte noch lange in Haft bleiben, befürchtet Janis Kluge von der Stiftung Wissenschaft und Politik. Er analysiert die Perspektiven der Proteste in Russland.

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Russland Moskau Protest und Festnahmen Alexej Nawalny
Protest gegen die Festnahme von Alexej Nawalny in MoskauBild: Maxim Shemetov/REUTERS

Deutsche Welle: Herr Kluge, der Kreml-Kritiker Alexej Nawalny war mit einer Bewährungsstrafe auf freiem Fuß, jetzt ist sie durch eine Haftstrafe ersetzt worden. Haben Sie damit gerechnet?

Janis Kluge: Das Urteil war in dieser Form zu erwarten, es ist jetzt das maximale Strafmaß, das in diesem Fall möglich gewesen ist. Ich denke, nach der Vergiftung Nawalnys im Sommer war damit zu rechnen gewesen, dass man jetzt auch weiterhin versuchen wird, ihn ruhigzustellen und von der politischen Bildfläche erstmal verschwinden zu lassen.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hatte 2018 die wiederholten Festnahmen und Verhöre des Kreml-Kritikers als politisch motiviert gerügt. Was zeigen das jetzige Urteil und die Tatsache, dass das Gericht die Rüge des EGMR ignoriert hat?

Deutschland
Janis Kluge ist Russland-Experte der SWP in BerlinBild: privat

Ich denke, dass dieses Urteil nicht vom Gericht selbst gefällt wurde. Ich denke, es ist eine politische Entscheidung des Kremls gewesen, dieses Urteil so zu fällen. Das ist dann eben völlig unabhängig davon, was der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zu dem vorherigen Urteil gesagt hat. In meinen Augen setzt sich da ein Trend fort, dass sich Russland zunehmend auch von diesen Institutionen des Europarats abkoppelt und seine innenpolitischen Entscheidungen unabhängig davon trifft.

Wird Nawalny nach dieser Haftstrafe freikommen?

Ich persönlich rechne nicht damit, dass Nawalny im Jahr 2024, also kurz vor der Präsidentschaftswahl, aus dem Gefängnis entlassen wird. Solange der Kreml in ihm eine Bedrohung sieht, solange wird man ihn im Gefängnis halten. Ich rechne mit einer langjährigen Haftstrafe. Es laufen weitere Verfahren gegen Nawalny und ich denke, dass die dazu verwendet werden, eben diese Gefängniszeit zu verlängern.

Wie bewerten Sie die Proteste nach dem Urteil und die gewaltsame Reaktion auf sie?

In den Protesten hat sich fortgesetzt, was wir schon in den vergangenen Wochen gesehen haben. Auch wenn die Proteste zuletzt geringer waren, war es ein extrem großes Polizeiaufgebot. Es gab wieder Aufnahmen von Gewaltexzessen gegen Demonstranten, aber auch gegen Journalisten. Wir sehen da einen sehr kompromisslosen und sehr harten Umgang der politischen Führung in Moskau mit diesen Protesten in Bezug auf Nawalny.

Russland Gerichtsverhandlung Nawalny
Alexej Nawalny im GerichtBild: Moscow City Court/dpa/picture-alliance

Warum wurden die Proteste mit so viel Gewalt aufgelöst? Hat der Kreml Angst?

Ich glaube nicht, dass der Kreml Angst vor den Protesten hat. Der Polizeiapparat ist auf jeden Fall übermächtig genug, um auch dieser Demonstrationen Herr zu werden, auch wenn sich in den nächsten Wochen vielleicht eine neue Protestwelle anschließt. Auf der Straße ist die Dominanz der politischen Führung nicht in Gefahr. Ich denke, es ging darum, für alle, die sich an diesen Protesten beteiligen, ein kompromissloses Zeichen zu setzen, dass sie dabei ein sehr hohes persönliches Risiko eingehen. Man will sie dazu bewegen, in Zukunft nicht mehr an diesen Aktionen teilzunehmen. Dafür nimmt man in Kauf, dass es jetzt Aufnahmen von diesem sehr harten Durchgreifen der Polizei gibt, was wiederum auch ein schlechtes Licht in den Augen vieler auf die Politik in Russland werfen wird.

Was wird aus der von Nawalny gegründeten Anti-Korruptions-Stiftung, solange er in Haft ist?

Die Arbeit der Stiftung ist dadurch sehr erschwert. Aber wir haben in den vergangenen Jahren gesehen, wenn Nawalny in Haft war, dass dann andere Akteure aus seinem Umfeld mehr Verantwortung übernommen haben und präsenter geworden sind. Ich kann mir vorstellen, dass das in den nächsten Jahren auch passieren wird. Ich rechne damit, dass die Arbeit der Stiftung weitergeht, trotz der sehr, sehr schwierigen Umstände und des massiven Drucks vonseiten des russischen Staates.

Kann Julia Nawalnaja den Platz ihres Mannes einnehmen, so wie Swetlana Tichanowskaja in Belarus?

In meinen Augen hat sich das bisherige Auftreten von Julia Nawalnaja unterschieden von dem, was wir von Swetlana Tichanowskaja gesehen haben. Sie ist zwar in den vergangenen Wochen etwas präsenter gewesen als zuvor, aber trotzdem ist es doch immer noch ein sehr, sehr großer Schritt zu dem, was Swetlana Tichanowskaja gemacht hat, die zu einer Führungsfigur der Opposition geworden ist. Deshalb denke ich nicht, dass Julia Nawalnaja eine ähnliche Rolle einnehmen wird. Aber ich kann mir gut vorstellen, dass auch sie in den nächsten Jahren präsenter sein wird.

Kann eine Reaktion des Westens das Vorgehen des Kremls beeinflussen?

Das wird sicherlich im Fall Nawalny keinen direkten Einfluss auf die russische Führung haben, weil das ein innenpolitisches Thema ist, und das hat für den Kreml einfach eine andere Bedeutung als das außenpolitische Image. Es gab einige sehr deutliche Reaktionen aus Europa, aber bislang hat sich die Europäische Union noch nicht auf eine gemeinsame Sprache einigen können. Das zeigt für mich, dass es weiterhin schwierig sein wird, vonseiten des Westens gegenüber Russland mit einer Stimme zu sprechen. Aber letztlich halte ich es schon für möglich, dass vereinzelte neue Sanktionen gegen bestimmte Personen in Russland im Zusammenhang mit dem Fall Nawalny beschlossen werden.

Russland Moskau | Gewalt gegen gegen Journalisten | Alexei Navalny
Zusammenstöße zwischen Demonstranten und der Polizei in MoskauBild: Kirill Kudryavtsev/AFP/Getty Images

Was erwarten Sie von dem Besuch des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell in Moskau in diesen Tagen?

Ich glaube, es wird ein sehr schwieriger Besuch für Borrell sein. Natürlich sind Präsident Wladimir Putin und sein Außenminister Sergej Lawrow gewohnt, in solchen Situationen mit westlichen Politikern zu sprechen. Sie haben da ihr Narrativ und ihre Linie praktisch schon sehr gut eingeübt. Ich glaube, es wird bei diesem Treffen nichts Überraschendes passieren. Aber Borrell sollte sehr darauf schauen, dass er bei diesem Treffen die Haltung der EU transportieren kann und nicht zu viel Nähe zur russischen Führung zeigt. Gleichzeitig sollte er versuchen, eine Art von Dialog fortzusetzen.

Wie werden sich die Proteste weiter entwickeln?

Ich rechne in den nächsten Wochen mit mehr Protesten, einfach als Reaktion auf dieses Urteil. Ich rechne auch damit, dass diese Proteste dann wieder in ähnlicher Weise unterdrückt werden wie schon in den vergangenen zwei Wochen. Ich glaube, dass der russische Staat die Mittel in der Hand hat, um letztlich diesen Protest-Impuls auszusitzen, und dass er es schaffen wird, die Leute davon abzuhalten, dauerhaft auf die Straße zu gehen.

Interessant wird es dann im Herbst im Rahmen der Duma-Wahlen, weil da wieder sehr viel Anlass für Demonstrationen entstehen könnte, und die Wahlen könnten damit zu einem Katalysator werden für eine neue Protestwelle. In diesem Sinne wird das Jahr 2021 politisch ein sehr unruhiges Jahr in Russland werden.

Janis Kluge ist Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Er ist Wissenschaftler der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien. Seine Forschungsgebiete sind Russland, Demografie und Handelsbeziehungen.

Das Gespräch führte Natalia Smolentceva.