Türkei: Präsident gegen Pop-Diva
21. Januar 2022Eigentlich sollte es ein ganz normaler Neujahrsgruß werden, als Sezen Aksu, die große Pop-Diva der Türkei, am 30. Dezember einen ihrer Songs mit einem Begleittext auf ihrem YouTube-Kanal postete. Seitdem begegnet "dem kleinen Spatz", wie sie in der Türkei genannt wird, Hass und Hetze nationalistisch-islamistischer Gruppen. Sie werfen ihr vor, durch ihr Lied "Şahane Bir Şey Yaşamak" ("Das Leben ist wunderbar") religiöse Werte der Nation verletzt und beleidigt zu haben. Aksu singt: "Grüßt mir die ignoranten Adam und Eva". Adam gilt im Islam als erster Mensch und Prophet Gottes zugleich. Er und Eva sind in den Augen vieler religiös-konservativen Türken heilig.
"Pflicht, die Zunge herauszureißen"
Auch in den Augen des türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan: Im Anschluss an das Freitagsgebet äußerte er sich zu dem Thema, auch wenn er Sezen Aksu dabei nicht namentlich erwähnte. "Niemand darf den Propheten Adam beleidigen. Sollte dies jemand tun, so ist es unsere Pflicht, ihm die Zunge herauszureißen. Auch Eva darf niemand angreifen. Sollte dies doch jemand tun, müssen wir ihm seine Grenzen aufzeigen!" sagte er in der Camlica-Moschee in Istanbul.
Zuvor hatte sich schon die höchste Religionsbehörde des Landes Diyanet, die Erdogan unterstellt ist, in die Diskussion um Sezen Aksu eingeschaltet. In einer Erklärung rief Diyanet alle zur Vorsicht auf und betonte, wie heilig islamische Persönlichkeiten und Symbole seien, und wie schnell jede unüberlegte Haltung als respektlos gewertet werden könne.
Nur: Warum herrscht plötzlich so viel Aufregung um ein Lied, das schon vor fünf Jahren veröffentlicht wurde? Die Antwort liegt im Begleittext, den Sezen Aksu zum Jahreswechsel mit dem erneut geposteten Song veröffentlichte. Zwischen den Zeilen kritisierte sie darin die Regierung, die die Gesellschaft polarisiere und Kritiker unterdrücke. Und alle, die all das als Normalität hinnähmen.
Sezen Aksu: Immer ein Freigeist
Sezen Aksu war schon immer ein Freigeist. Aksu singt hauptsächlich über die erfüllte und unerfüllte Liebe, Trennung, Einsamkeit, Melancholie oder Kummer - klassische Zutaten beliebter Pop-Songtexte. Aksu bezieht darüber hinaus in ihren Liedern aber auch immer eine klare politische Haltung: Als erste türkische Pop-Künstlerin sang sie schon in den 1980ern über Frauenrechte sowie über die Opfer des Militärputsches von 1980. Sie widmete dem ermordeten armenischen Journalisten Hrant Dink ein Lied, schrieb ein weiteres über ein zwölfjähriges kurdisches Mädchen, das durch eine Artilleriegranate des türkischen Militärs ums Leben kam. Sezen Aksu vertritt vieles, was der zunehmend autoritären AKP-Regierung missfällt, und ihrem aktuellen Verbündeten, der ultranationalistischen Partei MHP, schon immer ein Dorn im Auge war.
Daher überrascht es kaum, dass ein Anwalt aus diesen Kreisen die aktuelle Diskussion anstieß und Sezen Aksu nun sogar wegen "Beleidigung religiöser Werte" anzeigte. Unterstützung bekam er aus konservativen Kreisen. Eine Gruppe von Demonstranten aus dem nationalistisch-islamistischen Milieu zog sogar einmal mitten in der Nacht vor Aksus Privatwohnung und protestierte dort lautstark.
Kritik an Diyanet
Als wären die massiven Anfeindungen gegen Sezen Aksu nicht genug, schaltete sich auch noch die mächtige, Präsident Erdogan direkt unterstellte Religionsbehörde Diyanet ein. Ohne die Sängerin namentlich zu erwähnen, schrieb sie, dass sie die Diskussion mit großer Aufmerksamkeit verfolge.
Kann und darf sich Diyanet bei solchen Angelegenheiten einmischen? Diese Frage beschäftigt nun seit Tagen die türkische Öffentlichkeit. "Jetzt stören Diyanet schon alte Songtexte", kritisiert Nuri Alan, ehemaliger Präsident des türkischen Oberverwaltungsgerichts. Es komme in der Türkei ständig zu Verletzungen der Verfassung. Die Freiheiten der Menschen würden immer weiter eingeschränkt. Seiner Ansicht nach bewegt sich die Türkei langsam von einem laizistisch-demokratischen Rechtsstaat in eine Richtung mit religiös-konservativen Werten..
Auch die bekannte türkische Rechtswissenschaftlerin Prof. Istar Gözaydin beobachtet eine immer aktivere Rolle der Diyanet in der türkischen Öffentlichkeit. Im Interview mit der DW stellt sie klar, dass die Meinungs- und Kunstfreiheit immer vor religiösen Gefühlen stehen sollte. Alles andere sei sehr problematisch und komme einer Zensur gleich. Und Zensur habe in einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft nichts zu suchen.
Künstler häufig im Fokus der Kritik
Tatsächlich aber haben regierungskritische Künstler in der Türkei einen immer schwereren Stand - vor allem seit den Gezi-Protesten 2013, die auch von zahlreichen Schauspielern und Sängern unterstützt wurden. Diese stellten sich auf die Seite der Protestierenden, die die Regierungspläne einer Bebauung des beliebten Gezi-Parks im Herzen Istanbuls zum Scheitern brachten. Die Folgen waren bitter: Viele Künstler wurden angefeindet und diffamiert, verloren ihre Rollen und bekamen keine Werbeverträge mehr. Einige wurden sogar von Erdogan höchstpersönlich für "vogelfrei" erklärt, so dass sie das Land verlassen und in andere Länder Europas fliehen mussten. Nach dem gescheiterten Putschversuch 2016 erlebten zahlreiche Künstler eine ähnliche Situation. Einigen drohten auch Prozesse wegen regierungskritischer Äußerungen.
Auch große Unterstützung für Sezen Aksu
Dessen ungeachtet erfährt Sezen Aksu von der türkischen Öffentlichkeit auch viel Unterstützung - von ihren Fans, anderen Künstlern, aber auch von Wissenschaftlern und Oppositionspolitikern. "Der kleine Spatz" hat sich selbst bislang nicht zu den Diskussionen geäußert. Vielleicht wird sie das alles ja in einem ihrer nächsten Songs verarbeiten.
Mitarbeit: Alican Uludağ