Thilo Sarrazins Buch "Wunschdenken"
27. April 2016"Sarrazin greift wieder an!", freut sich die Zeitung "Bild" über Sarrazins "Wunschdenken", sein drittes Sachbuch seit seinem vieldiskutierten Bestseller "Deutschland schafft sich ab". Es liegt seit wenigen Tagen in den Buchläden. Erste Kritiker positionieren sich: Ichbezogenheit attestiert etwa der "Spiegel" dem früheren Bundesbank-Vorstand und Berliner SPD-Senator, außerdem "kalte Aggression mit wissenschaftlichem Anstrich". In Ironie ergeht sich die Tageszeitung "Die Welt": "Man ahnt, wie viel besser es Deutschland ginge, wenn es nur auf Thilo Sarrazin hörte." Und die "Süddeutsche Zeitung" urteilt: "Was Sarrazin schreibt, ist possierlich, furchtbar und gut."
Sarrazins Buch ist eine Abrechnung. Auf gut 400 Seiten legt der 71-Jährige dar, warum Deutschland aus seiner Sicht schlecht regiert wird. "Deutschlands Zukunft", postuliert Sarrazin, "entscheidet sich an den Themen Einwanderung, Demografie und Bildung, jedoch nicht an Gleichheitsfragen, Genderfragen oder Fragen des Klimawandels." Schon jetzt verspielten die Deutschen ihren Wohlstand, ihr Bildungsniveau und ihr kulturelles Erbe, bilanziert der Autor. Die Hauptschuldige trägt aus Sarrazins Sicht den Namen Angela Merkel.
Sarrazin: "Wir schaffen das" war Merkels großer Fehler
Merkels historischen Satz "Wir schaffen das", mit dem sie die Öffnung der Grenzen für Flüchtlinge begleitete, hält Sarrazin für grundfalsch. Merkels "undurchdachte Flüchtlings und Einwanderungspolitik" nennt er den "wohl größten Fehler der deutschen Nachkriegspolitik" und "das größte Sozialexperiment Europas seit der Russischen Revolution." Merkel gefährde den eigenen Nationalstaat wie auch die Integration Europas.
Vor allem der Zustrom muslimischer Flüchtlinge treibt Sarrazin um. Ein Experiment, von dem er glaubt, dass es nur scheitern kann. Immerhin stammten die meisten Flüchtlinge aus Afrika und Nahost aus Ländern mit niedriger Bildungsleistung. Ihr "kulturelles und kognitives Profil" ähnle dem jener Muslime, die bereits in Europa sind. "Es ist daher anzunehmen", folgert Sarrazin, "dass sie sich hinsichtlich Bildungsleistung, Arbeitsmarktintegration, Sozialleistungsbezug, Kriminalität und Anfälligkeit für fundamentalistisches Gedankengut ähnlich entwickeln werden wie diese."
Utopische Zahlenspiele
Es sind düstere Thesen, die Sarrazin formuliert. Er garniert sie mit Szenarien wie diesen: Kämen wie 2015 jährlich eine Million Flüchtlinge ins Land, würde ihre Zahl durch Nachzug und eigene Kinder auf 134 Millionen Menschen im Jahr 2050 anwachsen. "Sicherlich", wie der Autor einräumt, "eine völlig utopische Zahl." Doch prognostiziert der Autor: "Die Rückgewinnung der Kontrolle über unsere Grenzen, seien es die Deutschlands oder die des Schengen-Raums, wird zur Existenzfrage für unsere Kultur und das Überleben unserer Gesellschaft."
Sarrazins Buch spricht Ressentiments nicht offen aus. Aber sie schwingen mit, und sei es nur in begrifflichen Unschärfen wie diesen: "Wer als deutscher Politiker der Meinung ist, dass alle Menschen auf der Welt, sobald sie die deutsche Grenze passiert haben, vor dem Grundgesetz die gleichen Rechte und an den Sozialstaat die gleichen Ansprüche haben sollten", gibt er zu bedenken, "wird eine andere Flüchtlings- und Einwanderungspolitik betreiben als jener, der die Interessen der deutschen Bevölkerung in den Mittelpunkt stellt." Wer diese "deutsche Bevölkerung" sei, sagt er nicht.
Listen politischer "Fehler"
Politiker lösten viele Probleme nicht, behauptet Sarrazin, und zwar aus den immer gleichen Gründen – aus Unwissenheit, Anmaßung, Bedenkenlosigkeit, Egoismus, Betrug und Selbstbetrug. Um die Welt zu erklären, holt Sarrazin weit aus – thematisch, historisch, geisteswissenschaftlich. Er bemüht Geistesgrößen wie Platon, beschreibt die Utopie eines Thomas Morus, zitiert den Wirtschaftstheoretiker Friedrich August von Hayek ebenso wie den Philosophen Karl Popper. Sarrazin präsentiert Listen mit seiner Ansicht nach guten wie schlechten Regierungszielen. Er lässt "politische Fehler" exemplarisch Revue passieren, samt ihrer Folgen.
Sarrazin bemüht sich um Sachlichkeit und Wissenschaftlichkeit, besonders im einleitenden, 160 Seiten starken theoretischen Teil. Knapp 160 Seiten verwendet er auf den Anhang samt Erläuterungen, Anmerkungen, Quellen und Register. Aber streckenweise klingt er belehrend und überzieht - etwa, wenn er über die "somnambule (schlafwandelnde, Anm. d. Red.) politische Klasse" wettert. Ihr gehörte er übrigens selbst an: Von 2002 bis 2009 war er Finanzsenator im Berliner Senat. Schon deshalb wirken Passagen, in denen er die eigenen Leistungen hervorhebt, unangenehm selbstdarstellerisch. Sarrazin ist weiter Mitglied der SPD.
Sechs Jahre ist es her, seit Sarrazin mit "Deutschland schafft sich ab – Wie wir unser Land aufs Spiel setzen" für Furore sorgte. Ganz Deutschland stritt über das Buch, das unter anderem vor Zuwanderung aus muslimischen Ländern warnte. Danach schrieb Sarrazin noch "Europa braucht den Euro nicht" (2012), "Der neue Tugendterror" (2014). Mit "Wunschdenken" dürfte Thilo Sarrazin seinen medialen Zenit überschritten haben. Seine Positionen in Sachen Flüchtlingspolitik sind bekannt und überraschen kaum.
Thilo Sarrazin: "Wunschdenken. Europa, Währung, Bildung, Einwanderung – warum Politik so häufig scheitert. Deutsche Verlagsanstalt, München 2016. 576 Seiten, € 24,99