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Der Ideologiemix hinter Putin

22. März 2022

Der Eurasismus ist eine Idee aus den Anfängen des 20. Jahrhunderts. Fast unbeachtet vom Westen ist er zu einer geopolitischen Richtschnur des Kreml geworden.

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Russland | Wladimir Putin im Luzhniki Stadium in Moskau
18. März 2022: Wladimir Putin lässt sich im Luzhniki-Stadion in Moskau feiernBild: Ramil Sitdikov/Novosti Host Photo Agency/REUTERS

Ein Jahr, fünf Monate und knapp drei Wochen - so lange dauerte 1697 bis 1698 die Reise von Peter dem Großen durch Westeuropa. Seine Ziele waren zum einen, das eigene Land Richtung Europa zu öffnen und zum anderen, Verbündete gegen das Osmanische Reich zu gewinnen, das immer weiter Richtung Westen vorgedrungen war. Russland sollte eine europäische Großmacht werden. 

Seine Geografen ließ der Zar die Karten neu zeichnen: Der Ural sollte die Grenze zwischen Europa und Asien markieren - und damit der westliche Teil Russlands als dauerhafter Teil des "alten Kontinents" festgeschrieben werden. Mit dem Aufbau Sankt Petersburgs nach den Vorbildern Rom und Versailles und der Verbindung durch die Ostsee öffnete Peter der Große das "Fenster zum Westen".

Seitdem zieht sich die Frage "Gehört Russland nun zu Europa oder nicht?" wie ein roter Faden durch die gesamte Geschichte des Landes. Und sie ist mit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine beklemmend aktuell geworden. 

Führungsrolle Russlands in Eurasien

Nach dem gewaltsamen Ende des Zarenreichs und der Etablierung der kommunistischen Herrschaft entstand in den 1920er-Jahren in russischen Emigrantenkreisen die Idee vom Eurasismus (Ewrazijstwo). Zwei der bekanntesten Vertreter waren Nikolai Trubezkoj und Pjotr Sawizkij. Sie strebten eine Führungsrolle Russlands in einem künftigen, riesigen Eurasien an. Ein Neologismus, der zwischen Europa und Asien einen neuen Kontinent - Eurasien - erfindet.

Den sich etablierenden Bolschewismus sahen die Eurasier als westlichen Import und die Modernisierungsversuche von Peter dem Großen als Grund für den Zerfall des Zarenreichs an. Sie wollten einer Marginalisierung Russlands entgegenwirken und sprachen sich für ein eurasisches Imperium als Gegenpol zu den romano-germanischen Kulturen aus - mit der orthodoxen Kirche als Stütze und nach dem Modell des starken Mongolenreichs.

"Die ersten Eurasier haben das Mongolenjoch (Damit sind die Angriffe und Herrschaft des Mongolenreichs zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert gemeint, Anm.d.Red.) positiv gedeutet", sagt Ulrich Schmid, Slawist und Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands an der Universität St. Gallen. Das habe der russischen Kultur erlaubt, produktiv auf asiatische Einflüsse einzugehen: "Aus diesem Grund, sagen die Eurasier damals und heute, sei Russland dafür prädestiniert, sich nach Asien auszubreiten und dort wirtschaftliche und politische Beziehungen aufzubauen. Und das ist natürlich im Prinzip auch gegen das große zivilisatorische Projekt des Westens gerichtet."

Doch die Idee eines Ewrazijstwo konnte sich nicht durchsetzen und geriet in den Hintergrund. Einhundert Jahre später wurde der Mythos von Eurasien dann aber wieder aus der Schublade geholt. Seitdem erlebt er einen regelrechten Aufschwung im politischen Diskurs Russlands, das sich nach außen gerne als integrativ gegenüber den Völkern und Ethnien Zentralasiens sowie des Islams darstellt. 

Der Zerfall der Sowjetunion und die Neuerfindung Russlands

Nach dem Zerfall der Sowjetunion befand sich Russland in einem ideologischen Vakuum. Erneut ließ es sich auf einen "Flirt" mit dem Westen ein, allerdings zögerlich und vage. So wiederholte Michail Gorbatschow die Metapher von einem "gemeinsamen europäischen Haus", die bereits seine Vorgänger Leonid Breschnew und Nikita Chruschtschow in den 1970er- und 1980er-Jahren postulierten. Boris Jelzin prophezeite die "Rückkehr in die europäische Zivilisation" und selbst Wladimir Putin sprach davon, dass Russland eine europäische Macht sei.

Es entstand zunächst der Eindruck, dass der Generationenwechsel im Kreml die alte sowjetische Vorstellung von der unüberbrückbaren Trennung zwischen Ost und West mit der Zeit verblassen ließ. Doch die Annäherung an den Westen war nicht von langer Dauer.

Um die Jahrtausendwende wurde die alte Ideologie neu aufgelegt und entwickelte sich zu einem politischen Paradigma für viele Russinnen und Russen: die Idee vom Neo-Eurasismus. "Eine Konstante beim eurasischen Denken in Russland ist der geopolitische Ansatz, der davon ausgeht, dass Russland nicht Teil des Westens ist", sagt Ulrich Schmid.

Der russische Kulturkern als Magnet

Während sich Putin in seiner ersten Amtszeit von 2000 bis 2008 dem Westen eher freundlich gesinnt zeigte, wandte sich der im Jahr 2012 erneut gewählte Präsident zunehmend vom Westen ab. "Eines der großen ideologischen Projekte von Putin bestand darin, eine neue russländische Nation zu schaffen - mit einem russischen Kulturkern, der durch die russische Sprache, die russische Literatur und bis zu einem gewissen Grad auch durch die russische Orthodoxie bestimmt sein soll. Und dieser russische Kulturkern soll alles, was zum russländischen Imperium gehört, wie ein Magnet zusammenhalten", so der Slawist.

In der Logik des Neo-Eurasismus ist Russland sozusagen zur Größe verpflichtet: Der Verzicht auf weitere Expansion würde die Existenz des russischen Volkes in Frage stellen. Die Völker Eurasiens müssten sich unter der Führung Russlands vereinen.  

Einer der Verfechter dieser Theorie ist Alexander Dugin, Publizist, Politologe und Co-Vorsitzender der mittlerweile verbotenen Nationalbolschewistischen Partei Russlands. In seinen Büchern "Vierte politische Theorie" und "Grundlagen der Geopolitik" entwickelt er die Theorie von der "Wasserkultur" und "Landkultur/Trockenkultur". Die erste soll die atlantische, amerikanisch globalisierte, liberale und individualistische Kultur darstellen, die zweite - das komplette Gegenteil - einen starken, konservativen, anti-liberalen, autoritären Kulturkreis, der einen Humanismus in seiner universellen Annahme ablehnt.

Für seine radikalen Äußerungen wird Dugin von vielen Neu-Rechten auf der ganzen Welt gefeiert - von jenen, die in Russland einen starken Verbündeten gegen die moderne und liberale Vorherrschaft in ihren eigenen Ländern sehen, so etwa von der Alt-Right-Bewegung in den USA oder von der Identitären Bewegung in Deutschland.

Zur Größe verpflichtet

"Putin und der Kreml halten vorsichtige Distanz zu Dugin, obwohl es natürlich zahlreiche Berührungspunkte zwischen dem Programm des Kremls und Dugins Eurasismus gibt. Aber indem Putin gewissermaßen eben nicht die Extrempositionen Dugins übernimmt, erscheint der Präsident in den Augen der russischen Öffentlichkeit als der Gemäßigte von beiden", beschreibt Ulrich Schmid.

Eine weitere wichtige Rolle in Putins politischer Ausrichtung habe der Autor des Buchs "Archipel Gulag" gespielt - Alexander Solschenizyn. "Solschenizyn war derjenige, der sich in den 2000er-Jahren mehrmals mit Putin getroffen hat. Die beiden waren sich einig, dass man die ostslawische Einheit von Belarus, Ukraine und Russland wiederherstellen müsse. Und beide waren sich eigentlich auch einig, dass eine westliche Demokratie als Staatsform für Russland schädlich sei", so der Slawist.

Putins Ideologiemix

Unter Experten herrscht zum größten Teil Einigkeit darüber, dass der Eurasismus nicht die einzige Theorie ist, die Putins Innen- und Außenpolitik bestimmt. Der russische Präsident wird vielmehr als Eklektiker bezeichnet, der sich nur bestimmte Ansätze aus verschiedenen Ideologien herauszieht. In seinem Buch "Technologien der Seele" beschreibt Ulrich Schmid neben dem Neo-Eurasismus noch zwei andere Ideologien, die spezifisch für Putins Entscheidungen seien.

Zum einen nennt er den imperialen Zugang zur eigenen Geschichte, "das oft wiederholte Argument der angeblich 1000-jährigen Staatlichkeit Russlands, die auf die Kiewer Rus zurückgeht und sich dann über das Moskauer Fürstentum, das zaristische Imperium und die Sowjetunion bis zur heutigen Russländischen Föderation erstreckt". Die dritte Komponente sei die russisch-orthodoxe Kirche.

Große Skulptur zeigt Putin mit weit aufgerissenen Hand, der die Landkarte Ukraines verschlingt, auf der steht "Erstick Dran!"
Der Krieg als Thema eines Karnevalswagens - statt fröhlicher Umzüge gab es 2022 wie hier in Berlin Friedensdemos Bild: LISI NIESNER/REUTERS

Aus den verschiedenen Ansätzen "bastelt sich Putin ein patriotisches Programm, das auf die Wiederherstellung dessen hinausläuft, was er das historische Russland nennt", so Ulrich Schmid. "Das historische Russland ist dieses 1000-jährige Russland, in dem Belarus, die Ukraine und Russland ganz eng zusammengehören."

Legitimation aus der Geschichte

Der Präsident der Russländischen Föderation vereinnahmt für sich Theorieansätze, die ihm gefallen und die in seine Gesamttheorie passen. Die Legitimation dafür holt er sich aus der Geschichte. Dabei stellt Wladimir Putin sein Land und sein Volk als Kämpfer gegen den Nationalismus und Faschismus dar. Zugleich unterstützt er aber offen rechte Parteien und Bewegungen in Westeuropa und den USA.

DW Factchecking | Russland | Wladimir Putin | 24. Februar 2022
Wladimir Putins TV-Ansprache vom 24. Februar 2022Bild: Kremlin

Die Russen sind in Putins Weltsicht und der Propaganda der Staatsmedien die Guten, die Helfer, die Retter der Slawen oder sogar der ganzen Welt. Und doch führt die russische Armee gerade in Putins Auftrag einen Angriffskrieg gegen ein anderes slawisches Volk. Doch in Putins Reden ist Russland nie der Aggressor.

Auch das Bild vom starken und vereinten Russland spielt wieder eine wichtige Rolle in der Staatspropaganda. Doch wie vereint kann ein Russland sein, das Oppositionelle verfolgt und seine eigenen Bürger, die friedlich demonstrieren, massenhaft verhaften lässt?

DW Mitarbeiterportrait | Rayna Breuer
Rayna Breuer Multimediajournalistin und Redakteurin