Szenarien einer Regierungsbildung
21. November 2017Plötzlich steht er im Rampenlicht. Frank-Walter Steinmeier, protokollarisch die Nummer eins im Staat, soll retten, was fürs Erste zu Bruch gegangen ist: eine Regierungskoalition. Und er muss sogar. Das Grundgesetz gibt ihm durch Artikel 63 wichtige Befugnisse für das Zustandekommen einer Regierung. Statt zu repräsentieren, muss Steinmeier nun politisch wirken. Ein Job, der dem ehemals ranghöchstem Diplomaten Deutschlands liegt. Als Außenminister galt "Häuptling Silberhaar" als Meister des ausgleichenden Wortes.
Die Stunde des Präsidenten-Diplomaten
Die Kraft des Amtes zieht der Bundespräsident allein aus der Macht der Worte. Das klingt prosaisch und nach Sonntagsreden. Tatsächlich muss Steinmeier nun als Diplomat und Autorität zugleich wirken. Als Außenminister galt seine ausgleichende Art als Stärke. Doch diesmal muss er auch fordern. "Besser nicht regieren, als falsch regieren", hatte FDP-Chef Christian Lindner nach dem Scheitern der Sondierungen gesagt.
Der Bundespräsident sieht das anders. Wer sich um politische Verantwortung bewerbe, dürfe sich nicht drücken, "wenn man sie in den Händen hält." Steinmeiers Reaktion auf das Scheitern war eindeutig: Das letzte Wort über die Regierungsbildung ist noch nicht gesprochen. Denn jetzt spricht er - und zwar mit allen Beteiligten. Zunächst über Jamaika.
Das gab es noch nie: Die Minderheitsregierung
Eine Regierung ohne parlamentarische Mehrheit, eine alternative Option zu Jamaika, wäre eine Premiere. Einem Bündnis aus Union und FDP würden 29 Stimmen fehlen. Schwarz-Grün hätte ein Defizit von 42 Abgeordneten im Bundestag. Das macht das Regieren zu einem Himmelfahrtskommando. Im besten Falle könnte es eine Sternstunde für das Parlament werden, denn Minderheitsregierungen müssen ihre Gesetzesvorhaben richtig gut verkaufen können. Doch es bleibt die permanente Gefahr taktischer Spielchen.
Die könnte die SPD mit ihren 20 Prozent einigermaßen bannen - zumindest hier und da, wenn ihr danach ist. Damit würde sie nicht wortbrüchig, denn eine Große Koalition will sie nicht mehr. Die bekam ihr nicht gut: Schwarz-Rot wurde mit 14 Prozent Stimmenschwund mehr als deutlich abgewählt. Aber bei bestimmten Sachthemen könnten die Genossen mit Schwarz-Gelb oder Schwarz-Grün abstimmen. Das wäre etwas anderes: Ein bisschen opponieren, ein bisschen mitregieren. Es sei denn…
Oder doch noch einmal Große Koalition?
Die Option einer erneuten Großen Koalition ist doppelt vage. Zum einen - das haben die Sozialdemokraten mehr als nur anklingen lassen - müsste sich die Union zuvor "entmerkeln". Das könnte per freiwilligem Verzicht durch die Kanzlerin geschehen. Was eher unwahrscheinlich ist, denn als protestantischer Pflichtmensch zieht sie durch, was sie angefangen hat. Die andere Variante wäre noch spektakulärer: Ein Putsch in der Union gegen die Dauerkanzlerin. Politische Königsmorde - gescheiterte und geglückte - gab es auch in der eher braven deutschen Parteiendemokratie.
1989 entging Helmut Kohl beim Parteitag in Bremen nur knapp seinem Sturz. Kurz vor dem Fall der Mauer konnte er das rebellische Parteivolk mit der Meldung aus Ungarn bei der Stange halten, dass dort die Grenzen für Flüchtlinge aus der DDR geöffnet worden waren. Sein Eintritt in die Geschichtsbücher begann bekanntlich erst danach. 1995 zeigten dann die Sozialdemokraten, wie sie sich ohne Voranmeldung auf ihrem Mannheimer Parteitag von ihrem Vorsitzenden Rudolf Scharping sang- und klanglos verabschieden konnten.
Sowohl bei der CDU 1989, als auch bei der SPD 1995 standen Nachfolger parat. Lothar Späth und Oskar Lafontaine. Hinter Merkel steht derzeit niemand, der sich als Nachrücker aufdrängt. Es sei denn, gewichtige Spitzen-CDU'ler brächten es fertig, den inzwischen 75-jährigen Wolfgang Schäuble als Übergangskanzler zu positionieren. Er hätte die Kompetenz und vor allem die Autorität. Doch solch shakespeareartige Szenarien sind nicht in Sicht.
Auf ein neues: Noch einmal wählen
Auch bei dieser Frage hat der Bundespräsident die Zügel in der Hand. Zunächst muss er dem neu gewählten Bundestag einen Kandidaten oder eine Kandidatin zur Wahl vorschlagen. Das muss nicht Angela Merkel sein, aber er wird wohl nur sie ins Rennen schicken, denn sie ist die Einzige, die Aussicht auf eine Mehrheit hat. Diese aber muss eine absolute sein. Erhält sie keine Mehrheit, wonach es derzeit aussieht, hätte der Bundestag zwei Wochen Zeit, sich mit absoluter Mehrheit auf einen Kandidaten zu einigen.
Gibt es keine Kanzlermehrheit, kommt es zu einem dritten Wahlgang. Hier reicht dann eine relative Mehrheit: Es gewinnt, wer die meisten Stimmen bekommt. Im Anschluss entscheidet der Bundespräsident innerhalb einer Woche, ob er die mit relativer Mehrheit gewählten Bundeskanzler ernennt oder den Bundestag auflöst. Löst er den Bundestag auf, muss innerhalb von 60 Tagen gewählt werden. Umfragen zufolge wollen rund zwei Drittel der Deutschen Neuwahlen, falls Jamaika endgültig scheitern sollte. Der 22. April ist schon als möglicher Wahltag im Visier.
Nach Lage der Dinge kann sich derzeit wohl nur die AfD auf einen neuen Wahlkampf freuen. Allein das bisherige Scheitern einer Regierungsbildung spielt ihnen in die Hände. Alle anderen Parteien müssen fürchten, vom Wähler gerupft zu werden. Die Union, weil der Merkel-Zenit längst überschritten ist, die SPD, weil mit Martin Schulz ein historischer Verlierer noch einmal antreten dürfte, die Grünen, weil sie im September eigentlich besser abgeschnitten hatten, als selbst befürchtet. Und vor allem die FDP. Den Liberalen hängt seit ihrem nein zu Jamaika der Malus des störrischen Quertreibers an.