MH17-Abschuss: Dreimal lebenslänglich
17. November 2022Sein Bruder, seine Schwägerin und ihr Sohn stiegen am 17. Juli 2014 voller Vorfreude in das Flugzeug, das sie von Amsterdam in den Urlaub nach Kuala Lumpur bringen sollte, erzählt Piet Ploeg. Sie kamen nie an. Die Leiche seines Bruders wurde bis heute nicht gefunden.
"Das alles hat mein Leben völlig verändert." Der Sprecher der Angehörigen der 298 Menschen, die in der Ostukraine starben, steht vor dem kahlen Betonblock direkt neben dem Rollfeld des Flughafens Schiphol, in dem das Strafgericht sein Urteil gegen drei russische und einen ukrainischen Staatsangehörigen verkündet hat. Der Wind treibt graue Regenschleier vor sich her. Viele Familienangehörige und Freunde mit ähnlich tragischen Verlusten sind gekommen, um die zwei Stunden dauernde Urteilsbegründung nach 68 Verhandlungstagen zu hören. Unter den Toten waren 80 Kinder.
Dreimal lebenslänglich, ein Freispruch
"Die Welt weiß jetzt, wer verantwortlich war. Das ist für uns genau so wichtig wie die eigentliche Strafe für die Angeklagten", sagt Piet Ploeg. Gegen die Angeklagten wurde in Abwesenheit verhandelt, weil russische Behörden ihre Auslieferung verweigerten. Nur ein Angeklagter, Oleg Pulatow, ließ sich von Anwälten vertreten, erschien aber nie im Gerichtssaal. Er wurde freigesprochen, weil nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden konnte, dass er für den Einsatz der Buk-Rakete mitverantwortlich war. Haupttäter war der Russe Igor Girkin, einst selbsternannter Verteidigungsminister der nur von Russland anerkannten "Volksrepublik Donezk". Girkin sowie die Angeklagten Sergej Dubinskyj und Leonid Charschenko wurden zu lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt, weil sie die Buk-Rakete angefordert hatten und den Abschuss verantworteten.
"Russland hatte volle Kontrolle"
Diese Strafen werden die Täter auf absehbare Zeit nicht antreten müssen, weil sie sich in Russland oder in russisch besetzten Gebieten in der Ukraine aufhalten. "Das ist natürlich sehr verstörend, aber damit müssen wir fertig werden", kommentiert Piet Plog. Besonders schlimm sei, dass sich einer der Angeklagten in den sogenannten sozialen Medien abfällig geäußert, aber nie seiner Verantwortung gestellt habe.
Der Vorsitzende Richter Hendrik Steenhuis stellte unumwunden fest: "Russland hatte volle Kontrolle über die Separatisten in der Ostukraine." Die Verantwortung für den Schuss mit der russischen Rakete auf das Verkehrsflugzeug der Malaysia Airlines liege deshalb auch bei den Institutionen und Machthabern in Russland im Jahr 2014.
Das Gericht stellte fest, dass das Verkehrsflugzeug von einer russischen Buk-Rakete abgeschossen wurde. Das Waffensystem wurde nach der Tat wieder nach Russland geschafft. Zahlreiche Zeugenaussagen, Handyvideos, abgehörte Telefongespräche und Funksprüche, die von der Rechercheplattform "Bellingcat" zusammengetragen wurden, lassen keinen anderen Schluss zu, schreiben die Richter in ihrer Urteilsbegründung.
Russland bestreitet bis heute jede Beteiligung. "Sie haben alles geleugnet. Das war Desinformation mit einem industriellen Umfang. Sie fingen zu lügen an. Sie lügen noch immer", erregt sich Piet Ploeg über die Rolle der russischen Behörden.
Außergewöhnliches, aufwändiges Verfahren
"Der Prozess war sehr ungewöhnlich und hat schwer Eindruck hinterlassen", sagte der Vorsitzende Richter Hendrik Steenhuis. Die vorangegangenen Ermittlungen waren ebenso schwierig. Über zwei Jahre brauchten Bergungsmannschaften und Experten, die immer wieder von den pro-russischen Machthabern in der Ostukraine behindert wurden, um Wrackteile und Leichen zu bergen. Das Wrack wurde in einem Hangar in den Niederlanden für die Beweisaufnahme wieder zusammengesetzt. Vorwürfe aus Russland und der Ostukraine, die Ermittler hätten Beweise, Videos oder Audiomitschnitte gefälscht, wies das Gericht zurück.
Die Hinterbliebenen waren besonders entsetzt über Fotos von prorussischen Separatisten, die mit Kuscheltieren aus dem Flugzeugwrack posierten. Viele sind auch heute, mehr als acht Jahre noch traumatisiert.
"Für manchen wird es nie Ruhe geben, auch nicht nach dem Urteil heute", meinte Sanders Essers, der seinen Bruder, dessen Frau, einen Neffen und eine Nichte in der MH17-Katastrophe verlor.
Viele Fragen konnte auch das Gericht nicht beantworten. Wer genau den eigentlichen Befehl zum Abfeuern der Rakete gab, wer die Knöpfe drückte und warum die Boeing 777 von Malaysia Airlines das Ziel war, bleibt weiter ungeklärt.
Neuer Standard für die Beweisführung
"Die Welt schaut genau hin, wie das Gericht die von Internetplattformen generierten Beweise gewertet hat. Es gab eine Menge Leute, die mit ihren Telefonen fotografiert haben und diese Fotos auf sozialen Medien veröffentlichten. Es gab viele Investigativ-Teams in der ganzen Welt, die diese Puzzleteile zusammengesetzt haben", erläutert Marieke van Hoon im Gerichtsgebäude. Sie lehrt internationales Strafrecht an der Universität Amsterdam. "Das Gericht setzt mit diesem Urteil einen Standard in dem Bereich." Die Richter hätten die Zuständigkeit alleine deshalb, weil die große Mehrheit der Opfer Niederländer waren und der Flug in Amsterdam startete, so van Hoon. "Hier ging es natürlich strafrechtlich um die vier Angeklagten, aber natürlich ging es indirekt auch immer um Russland." Ein internationales Tribunal nach Regeln der Vereinten Nationen verhinderte Russland durch sein Veto im Weltsicherheitsrat.
Weitere Verfahren
Die stellvertretende Leiterin der Anklage, Digna von Boetzelaer, sagte der DW, Russland habe in diesem Prozess nie mit den niederländischen Behörden kooperiert oder irgendwie zur Aufklärung beigetragen. "Sie haben uns nicht geholfen. Wir haben viele Anfragen gestellt nach dem Verbleib der Buk-Transporter am 17. Juli, nach der Crew des Transporters. Wir haben nie eine Antwort bekommen."
Weitere Verfahren gegen Personen aus Russland und der Ostukraine, gegen die weiter ermittelt wird, seien möglich. Zwei Klagen sind noch vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg gegen Russland anhängig. Eine weitere Klage richtet sich vor dem Gerichtshof gegen die Ukraine, weil sie die Flugrouten über dem umkämpften Gebiet 2014 nicht rechtzeitig gesperrt haben soll.